Soziale Phobien: Die Angst vor den Anderen oder vor sich selbst?

Soziale Phobien: Die Angst vor den Anderen oder vor sich selbst?
  • Angst ist eine grundlegende Emotion des Menschen.
  • Die soziale Phobie ist eine Art von Angst, bei der Betroffene Angst vor sozialer Interaktion haben.
  • Es gibt verschiedene Theorien zum Ursprung und zur Behandlung von sozialen Phobien.

Schweißausbrüche, rot werden, stammeln: Kann keiner gebrauchen, doch wir kennen es alle, wenn wir vor einer Gruppe (fremder) Menschen stehen und im Boden versinken wollen. Doch heißt das, wir haben alle soziale Phobien? Nein, beruhig dich. Denn bis zu einem gewissen Grad sind solche Reaktionen völlig normal, menschlich und ein Überbleibsel aus unserer Evolutionsgeschichte. Denn soziale Phobien sind eine Art von Angst und Angst lässt unsere Körper manchmal etwas rumspinnen.

Bei Menschen mit sozialer Phobie sieht das Ganze etwas anders aus: Sie fühlen sich überhaupt nicht gewappnet für soziale Interaktion. Sie denken, sie würden gesellschaftlichen Standards nicht genügen und dass sie einen hohen Preis für ihre Inkompetenz zahlen werden. Sie haben Angst, dass die Anderen sie für dumm, hässlich, scheiße halten. Während stressigen sozialen Interaktionen fokussieren sich Menschen mit sozialen Phobien so sehr auf sich selbst, sodass sie die Außenwelt nicht einmal mehr wahrnehmen. Plötzlich geht es nur noch um die eigenen (subjektiv empfundenen) Schwächen und bevor sie es wissen, sind sie fest im Strudel des Teufelskreises der Angst und es endet in einer Panikattacke.

Was ist soziale Phobie?

Soziale Phobie hat viele Gesichter: Anne findet Referate doof. Steven will einfach nicht im Mittelpunkt stehen. Gregor kann vor seinen Kolleginnen nicht essen. Und für Rudi ist jede denkbare soziale Situation ein Ding der Unmöglichkeit. Soziale Phobien sind vielfältig und dynamisch. Die häufigste Art von sozialer Phobie ist das Sprechen in der Öffentlichkeit. Das Nachschlagewerk für Psychologende, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), beschreibt soziale Phobie mit u.a. folgenden Kriterien:

  • „Ausgeprägte Angst vor einer oder mehreren sozialen Situationen, in welchen die Person einer möglichen Beobachtung durch andere Personen ausgesetzt ist. Hierzu gehören z. B. soziale Interaktionen (ein Gespräch führen, unbekannte Menschen treffen), Beobachtet sein (z.B. beim Essen oder Trinken) und Leistungen vor anderen Menschen erbringen (z.B. eine Rede halten).“
  • „Die betroffene Person befürchtet, dass sie sich in einer Weise verhalten wird oder dass sie Angstsymptome zeigt, die negativ bewertet werden (z.B. peinlich oder erniedrigend, zur Ablehnung durch andere Menschen führen oder diese verärgern).“
  • „Die sozialen Situationen verursachen fast immer Angst.“
  • „Die sozialen Situationen werden vermieden oder mit starker Anspannung und Angst ausgehalten.“
  • „Die Angst ist überdimensional zu der wirklichen Bedrohung durch die soziale Situation.“

Wer jetzt denkt: „Fuck, hab‘ ich eine soziale Phobie?“, kann beruhigt sein. Denn viele dieser Punkte treffen auch auf Schüchternheit zu, die zu einem gewissen Grad unbedenklich ist. Sowohl die soziale Phobie als auch Schüchternheit haben folgendes gemeinsam: Ängstliche Gedanken vor sozialer Interaktion; der Wunsch soziale Interaktion zu vermeiden; während sozialer Interaktion rot werden und schwitzen. Doch heißt das, dass eine soziale Phobie einfach nur Schüchternheit auf Crack ist? Die Forschung besagt, dass soziale Phobien in manchen Aspekten tatsächlich, wie eine extreme Form von Schüchternheit wirkt, da viele Symptome der beiden Phänomen deckungsgleich sind. Allerdings gibt es auch viele Symptome, die sehr unterschiedlich sind. Hier herrscht also noch viel Unklarheit in der Wissenschaft und Schüchternheit wird meist als große Überkategorie angesehen.

Soziale Phobien sind außerdem länder- und kulturübergreifend, auch wenn es deutliche Unterschiede gibt. So heißt die Störung in Japan taijin kyofusho (TKS), was übersetzt so viel wie „Angst vor zwischenmenschlichen Beziehungen“ bedeutet. Die „Westliche“ und die japanischen Störungen haben zwar viel gemeinsam (z.B.: Gefühl andere denken schlecht über einen; Gefühl der Unfähigkeit bei sozialer Interaktion; Wunsch soziale Interaktion zu vermeiden); allerdings gibt es auch große Unterschiede: In Europa haben Betroffene Angst sich selbst zu blamieren; in Japan haben Betroffene Angst andere zu blamieren! Daher sorgen sich viele Betroffene in Japan um ihre Mimik, Körpergeruch oder dass sie andere Personen ancreepen und anstarren.

Wie entstehen soziale Phobien?

Der bisherige Forschungsstand deutet darauf hin, dass soziale Phobien teilweise vererbbar sind. Die eigenen Gene scheinen einen moderaten Einfluss darauf zu nehmen, eine soziale Phobie zu entwickeln: Forschende glauben, dass die Erblichkeitsrate bei rund 40 Prozent liegt. Hierbei wird nicht die soziale Phobie an sich vererbt, sondern vielmehr die Anfälligkeit ängstlich zu sein oder sich oft Sorgen zu machen.

Viel wichtiger als genetische Faktoren sind die persönlichen Umweltfaktoren. Damit sind Erfahrungen gemeint, die nur du machst und sonst niemand. Welche dieser Umweltfaktoren eine soziale Phobie schlussendlich auslöst, ist noch ungeklärt. Allerdings ist sich die Wissenschaft ziemlich sicher, dass viel im Kindesalter passiert und der Erziehungsstil der Eltern maßgeblich ist. So gibt es Hinweise, dass Kinder mit Helikoptereltern (also Eltern, die ihre Kinder übermäßig behüten) mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine soziale Phobie im späteren Leben entwickeln werden. Kinder, deren Eltern sie vernachlässigen, sind aber genauso gefährdet eine soziale Angststörung zu entwickeln.

Es ist einleuchtend, dass Assi-Eltern, die ihrem Kind nur Ablehnung entgegenbringen, das Selbstwertgefühl des Kindes schaden. Das Kind entwickelt negative Annahmen über sich selbst und überspitzte Annahmen von anderen und fühlt sich im späteren Leben immer unterlegen. Überfürsorgliche Helikoptereltern begünstigen aber genauso das Entstehen einer sozialen Phobie. Denn sie lassen ihre Kinder keine eigenen Erfahrungen (sprich: Fehler) machen und das Kind kann keine sozialen Kompetenzen aufbauen.

Andere Forschende gehen davon aus, dass soziale Phobien ein Überbleibsel aus der Evolution sind. Wenn unsere haarigen Vorfahren durch den Wald hetzten, um auf Mammutjagd zu gehen, gab es viele Meinungsverschiedenheiten. Im Gegensatz zu heute wurden diese Meinungsverschiedenheiten nicht in Mediation-Workshops deeskaliert, sondern MANN schlug sich die Köpfe ein. Dabei gab es zwei Szenarien: Entweder du gewinnst und bist der King oder du verlierst und wirst aus der Gruppe ausgestoßen (oder verlierst zumindest Prestige). Individuen, die weniger aggressiv oder dominant waren, könnten es einfacher gefunden haben, wenig Anerkennung zu akzeptieren. Wer auf den Fame und die Anerkennung seiner Mit-Ur-Menschen pfeifen konnte, hatte ein chilligeres Leben und musste sich nicht dauernd mit den haarigen Prollos schlagen.

Die Theorie besagt, dass wir uns diese einst hilfreiche Strategie verinnerlicht haben und sie nicht mehr loswerden, obwohl wir sie heute eigentlich nicht mehr brauchen. Manche Personen verorten sich am unteren Ende der sozialen Hierarchie und fühlen sich minderwertig im Vergleich zu anderen Menschen. Sie sind sich sicher, dass ihre Defizite so offensichtlich sind, dass sie Angst vor sozialer Interaktion haben. Sie versuchen soziale Situationen zu vermeiden und wenn das nicht möglich ist, geben sie sich kleinlaut und zurückhaltend. Doch diese Ur-Zeit-Theorie wurde noch nicht mit Studien belegt und ist daher vorerst noch Spekulatius.

Der Teufelskreis der Angst bei der sozialen Phobie: Ein Beispiel

David Clark und Adrian Wells haben in den 90er Jahren ein Modell entwickelt, um soziale Phobie zu erklären. Hier ein Beispiel, um das Clark-und-Wells-Modell bildlich zu erklären: Hanna studiert Kommunikationswissenschaften an der Uni in Leipzig. Sie feiert ihren Studiengang und liebt es, darüber zu lernen, wie sie Sachverhalte mit ihren Mitmenschen kommunizieren kann. Ihre Klausuren und Hausarbeiten bestand sie easy-going und ihre Dozierenden findet sie auch alle super sympathisch. Wenn da nicht ein klitzekleines Problemchen wäre: Auch wenn sie Kommunikationswissenschaften studiert – Hanna selbst hat es nicht so mit kommunizieren. Vor allem vor Gruppen. Und vor allem vor Gruppen von unbekannten KoWi-Studis, die so cool und exzentrisch wirken, als wären sie gerade von der Party im Institut für Zukunft direkt ins Seminar gekommen.

Doch in Hannas Studiengang müssen die Studierenden fast jeden Tag Präsentationen halten und Ergebnisse vor der Gruppe vorstellen. Im Schnitt müsste sich Hanna jede Woche mindestens einmal vor ihr Seminar stellen und etwas präsentieren. Diese endlosen Präsis und Gruppenarbeiten belasten Hanna so sehr, dass sie sich ernsthaft überlegt, das Studium zu schmeißen oder zumindest nur die Seminare zu belegen, die keine Kommunikation erfordern – was bei Kommunikationswissenschaften eher schwierig ist.

Vor jeder Präsi ist Hanna sich sicher, dass sie verbocken wird; dass sie komisch aussieht; dass sie rot werden wird; dass die anderen über sie denken werden, sie sei ein Vollidiot. Und jedes Mal, wenn sie nach einer Präsi ein Lob erhält, ist sie sich sicher, dass es pure Ironie ist – oder noch schlimmer: Mitleid.

Spoiler Alert: Hanna hat eine soziale Phobie. Seit ihren Teenie-Jahren haben sich ihre Annahmen verfestigt, dass sie scheiße aussieht, doof ist und keiner sie mag. Selbst wenn es genügend Gegenbeweise gibt und Hanna einen gefestigten Freundeskreis hat und ihr die Bauarbeiter hinterherpfeifen, wenn sie an einer Baustelle vorbeispaziert (scheiß Chauvinisten): Hanna ist sich sicher, dass keiner sie mag und keiner sie heiß findet.

Bei vielen Menschen mit sozialen Phobien gibt es ein einschneidendes Erlebnis in der Jugend, was dazu führt, dass die Annahmen über einen selbst – aber auch die Annahmen über andere – nicht der Wahrheit entsprechen. Es ist bei Hanna nämlich nicht nur so, dass sie sich selbst Scheiße findet: Sie denkt, dass alle anderen Menschen nur so vor Selbstbewusstsein strotzen und alles viel besser können als sie selbst. Außerdem denkt sie, dass ihre Mitmenschen jedes kleine Missgeschick von ihr bemerken und sie dafür verdammen.

Jeder von uns würde nervös werden, bei dem Gedanken ein Referat vor einer Gruppe von Neo-Hipstern an der Uni Leipzig zu halten. Aber bei Hanna kann nicht mehr von Nervosität gesprochen werden, wenn sie schon Tage vor der Prüfung nicht mehr klarkommt. Sobald es dann so weit ist und sie vor der Gruppe steht, werden die Gedanken noch schlimmer: „Ich muss hier raus. Ich pack das nicht. Mir wird schlecht. Die wissen alle, was für ein Opfer ich bin.“ Und Schwups landet Hanna im Teufelskreis der Angst.

Zuerst kommen die Schweißausbrüche, dann das Rotwerden, das Zittern und die Konzentration geht flöten. „Oh mein Gott, die können alle meine Schweißringe sehen. Stink ich? Mein Gesicht glüht. Ich bin bestimmt wieder fleckig.“ Statt die wahrgenommenen physiologischen Veränderungen als normale Stressreaktion abzutun, denkt Hanna, dass ihre Angst außer Kontrolle gerät – und dass alle hier im Raum ihren Meltdown live miterleben werden.

Scheiße, was denken die denn von mir?„, ist Hannas nächster Gedanke. Sie malt sich bildlich aus, wie sie gerade aussehen muss: Ein bibberndes, zitterndes, inkohärentes Etwas. Selbst wenn ihre Vorstellung von sich selbst, nicht der Realität entspricht, ist das Ding schon gelaufen: Hanna ist so in ihren eigenen Gedanken verstrickt, dass sie nicht ein mal mehr bemerkt, wie ihre Seminargruppe auf sie reagiert. Ihr negatives Selbstbild erobert ihre subjektive Wahrnehmung.

Da dieses Referat nicht Hannas Erstes ist – und sie weiß, dass sie mit solchen Situationen nicht zurechtkommt – hat Hanna über die Jahre Sicherheitsverhalten entwickelt: Sie versucht im Vorfeld ihre Präsentation auswendig zu lernen, sodass sie nicht frei reden muss; sie spittet ihre Präsentation in double-time runter, damit der Spuk baldmöglichst ein Ende nimmt; sie vermeidet Blickkontakt mit dem Publikum; sie versucht an schöne Dinge zu denken. Doch diese Sicherheitsverhalten helfen Hanna nicht. Nein: sie hindern sie daran, ihre Angst zu konfrontieren und zu bemerken: „Scheiße – so schlimm war das gar nicht.“ Doch Hanna weiß das nicht und nach ihrem Referat, redet sie sich ein, dass sie nur wegen ihrem Sicherheitsverhalten überlebt habe.

Bei aller Selbstbeschäftigung fallen Hanna manche Dinge allerdings sofort ins Auge: „Der Typ da hinten hat gegähnt. Die zwei da drüben tuscheln. Und die halbe Gruppe ist nur am Handy!“ Dass der Typ bekifft ist, die „zwei da drüben“ immer tuscheln und dass es 2020 ist und ALLE ständig am Smartphone hängen, kommt Hanna nicht in den Kopf. Stattdessen bezieht sie das Verhalten ihrer Mitmenschen auf sich selbst und verstärkt zusätzlich ihr Negativbild damit. Auch nach der Präsi lässt Hanna das Gefühl von Minderwertigkeit und Scham nicht los und die Angst vor dem nächsten Referat wächst.

Was hilft gegen eine soziale Phobie?

Die Behandlung von sozialen Phobien ist genauso vielfältig wie die Angststörung an sich. Dabei kommt es immer auf die Ausprägung der Störung an. Es gibt viele Coaching-Gurus im Internet, die behaupten, sie hätten „3 einfache TIPPS um SOZIALE PHOBIE schnell zu überwinden„; allerdings sind die meisten solcher Angebote unseriös und ihre Hinweise sind nicht wissenschaftlich fundiert. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen im Rahmen einer Psychotherapie zeigten sich bisher am erfolgreichsten bei der Behandlung von Angststörungen, worunter auch die soziale Phobie fällt. Betroffene lernen dort mit ihrer Angst umzugehen oder in manchen Fällen können sie ihre Angst gar komplett überwinden. Ziel der Therapie ist es, dass die soziale Phobie das Leben nicht mehr negativ beeinflusst.

Die Erfolge einer solchen kognitiven Verhaltenstherapie sind auch neurowissenschaftlich dokumentiert: Forschende haben gezeigt, dass Personen nach einer zehnwöchigen Therapie strukturelle Veränderungen in relevanten Hirnarealen zeigten, die für Selbstkontrolle und Emotionsregulierung zuständig sind. In schweren Fällen können auch angstlösende Medikamente verabreicht werden.

mw

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