Auf den ersten Blick erscheint Schuld relativ simpel. Wenn Person A etwas Beschissenes tut, dann macht sie sich schuldig. Wenn Person A den Geldbeutel von Person B klaut (und doof genug ist, sich dabei erwischen zu lassen), ist es ziemlich eindeutig wer Schuld trägt. Wenn Person X in ein brennendes Haus rennt und Kind Y rettet, aber Kind Z zurücklässt, weil sie beide Kinder nicht tragen kann, trägt Person X dann auch Schuld? Und was ist, wenn Person 1 im Vollrausch Person 2 tot prügelt, weil Person 2 zuvor Person 1 mit einem Messer angegriffen hat – wer ist dann der Hauptschuldige? Wie machen wir uns schuldig und was ist Schuld überhaupt?
Wir Menschen haben uns auf bestimmte Regeln und Normen geeinigt, die ein (mehr oder weniger) friedliches Zusammenleben ermöglichen. Wer gegen diese Regeln verstößt, ist schuldig und wird bestraft: je schwerwiegender der Regelverstoß ist, desto heftiger ist die Strafe. Und wir Menschen mögen es nicht bestraft zu werden – selbst wenn es eine „milde“ Strafe, wie soziale Ächtung ist. Daher haben wir über die Jahrtausende psychologische Mechanismen entwickelt, die uns davon abholten gegen die sozialen Regeln zu verstoßen.
Diese Mechanismen nennen wir Schuldbewusstsein und Schuldgefühle. Schuldbewusstsein ist das ekelhafte Gefühl, wenn wir wissen, dass wir etwas verbockt haben und jemand dadurch zu Schaden gekommen ist. Das kann entweder durch eine Handlung oder durch das Unterlassen einer Handlung geschehen. Wie du siehst, wird Schuld ziemlich schnell, ziemlich kompliziert. Um die Sache noch abstrakter zu machen, gibt es abgesehen von „realen“ Schuldbewusstsein auch noch irrationale Schuldgefühle. Solche Schuldgefühle können auftreten, obwohl sich eine Person noch gar nicht schuldig gemacht hat und nur befürchtet, sie hätte einer Person Schaden zugeführt. Chronische Schuldgefühle stellen eine große Belastung dar für viele Menschen, Beziehungen und Familien. Im schlimmsten Fall führen sie bei Betroffenen zu psychische Erkrankungen, wie Depression.
Was ist Schuld? Unterschiede zwischen Schuldbewusstsein und Schuldgefühl
Ich wiederhole: Grundsätzlich müssen wir Schuldbewusstsein von Schuldgefühlen unterscheiden. Schuldbewusstsein ist nämlich eine ziemlich coole Sache. Der Großteil der Menschen werden sich ihrer Schuld bewusst, nachdem sie gegen eine Regel des sozialen Lebens verstoßen. Dies kann durch eine Handlung aber auch durch das Unterlassen einer Handlung geschehen. Spätestens wenn unsere Mitmenschen uns auf unser Fehlverhalten aufmerksam machen, fühlen wir uns schuldig. Und dieses Schuldbewusstsein fühlt sich ziemlich kacke an: Wir fragen uns, weshalb wir so gehandelt haben; denn eigentlich war unser Handeln nicht mit unserem Selbstkonzept vereinbar: „Normalerweise esse ich doch gar kein Fleisch“; „Eigentlich hätte ich nicht mit dem Mann meiner besten Freundin schlafen sollen“; „Wieso bin ich besoffen ins Auto gestiegen?“ Wir verspüren negative Emotionen, die sich gegen uns selbst richten. Im besten Fall mobilisieren uns diese negativen Emotionen, sodass wir das Verlangen verspüren unser Handeln wieder gutzumachen – uns zu ent-schuldigen.
Die Evolution hat uns das unangenehme Gefühl des Schuldbewusstseins nicht ohne Grund mitgegeben. Stell‘ dir einfach mal vor, wir würden nach Fehlverhalten keine Schuld verspüren: Wir wären ein Haufen triebgesteuerter Bastarde, ohne Prinzipien, Moral und Werte. Wir würden Schwächere versklaven, damit wir uns nicht bucklig malochen müssen. Wir würden den Planeten zerstören und späteren Generationen eine apokalyptische Zukunft bescheren. Wir würden in andere Länder einfallen und Plündern und Brandschatzen. Ach fuck: Das klingt ehrlich gesagt nach dem Status quo. Aber eigentlich sollte uns das Schuldbewusstsein davon abhalten, uns so zu verhalten.
Auf der Makroebene mag das Schuldbewusstsein nicht so gut funktionieren, aber auf der Individualebene hält Schuldbewusstsein die Gesellschaft immer noch zusammen. Wer gesellschaftliche Regeln bricht, schadet seinen Mitmenschen und fühlt sich deshalb schlecht. Allerdings sind diese Regeln, die unser Zusammenleben regulieren, überhaupt nicht selbstverständlich: sie sind sozial konstruiert. Über die Jahrtausende hinweg haben wir Menschen (mehr oder weniger) gelernt, welche Regeln notwendig sind, um in Frieden miteinander zu leben: Töte nicht, stehle nicht, bums nicht fremd – zehn Gebote und so.
In unserer (post-) „modernen“ Gesellschaft haben wir solche Regeln in juristischen Gesetzen verschriftlicht und als Moralvorstellungen verinnerlicht – sie bestimmen, welches Verhalten schuldig macht. Bei groben Regelverstößen greifen die Gesetze und der Staat sanktioniert den Schuldigen: Wenn ich jemanden umbringe, komme ich in den Knast. Bei einem weniger schlimmen Regelverstoß kommt die Moral ins Spiel und meine Mitmenschen ächten mich: Wenn ich den Ehemann meiner besten Freundin bums‘, hassen mich meine Freunde, aber ich komme nicht in den Knast.
Natürlich gibt es auch die Art Mensch, die sich nach einem offensichtlichen Regelverstoß, keiner Schuld bewusst wird. Vielleicht kennst du sogar so jemanden aus deinem Umfeld. Donald „Grab-‚Em-By-The-Pussy“ Trump ist ein gutes Beispiel: Trotz unzähliger Verstöße gesellschaftlicher Konventionen (und juristischer Paragraphen) erkennt Donald keine Schuld bei sich. Es sind immer die anderen: die Demokraten, die Mexikaner, die Eliten, Hillary, die Antifa. Aber Vorsicht: Es wäre es eine Vereinfachung zu sagen, dass Donalds Verhalten nur darauf beruht, Schuld nicht akzeptieren zu können. Schamlosigkeit, Minderwertigkeitsgefühle, Wut und viele andere Emotionen beeinflussen ebenfalls sein Verhalten.
Irrationale Schuldgefühle erkennen und entwaffnen
Im Gegensatz zu Schuldbewusstsein sind Schuldgefühle ein anderes Paar Schuhe. Wie der Psychoanalytiker Mathias Hirsch in seinem Buch Schuldgefühl erklärt, geht es bei Schuldbewusstsein um eine „tatsächliche Schuld, die durch einen realen Schaden, den der Eine dem Anderen (oder sich selbst) durch Tat oder Unterlassung zufügt, entsteht.“ Schuldgefühle funktionieren also ganz anders, denn sie können auch wegen irrationaler Gründe entstehen – die Person muss sich noch gar nicht schuldig gemacht haben.
Wir könnten sagen, dass es eine Mischung aus Furcht, Ängstlichkeit, der Besorgnis, die Anerkennung der Mitmenschen zu verlieren, Liebe und gutem Willen ist, also ein komplexes Gefühl, das uns immer dann überkommt, wenn uns das Gewissen schlägt.
Harry S. Guntrip
Für Hirsch hängen Schuldgefühle eng mit unseren Beziehungen zusammen. Wir entwickeln Schuldgefühle, wenn wir Angst haben die Liebe und Anerkennung von Menschen zu verlieren, die uns wichtig sind. Schuldgefühle lassen uns also denken, wir hätten einem geliebten Menschen Schaden zugefügt, obwohl das objektiv betrachtet, meistens nicht zutrifft. Für Hirsch werden Schuldgefühle von Dritten definiert: Religion, Moral, Gesetze und ihre Vertreter schreiben uns vor, was richtig und was falsch ist.
Bei Menschen, die anfällig für Schuldgefühle sind, kann es so ablaufen: Susi kommt nach einem anstrengendem Tag im Büro nach Hause. Ihr ätzender Chef und ihre ätzende Arbeit haben sie geschlaucht und jetzt will Susi einfach nur chillen. Als sie die Tür hereinkommt, eilt ihr Freund Timo zu ihr, um sie zu begrüßen und fragt sie nach ihrem Tag. „Geht“, sagt Susi genervt, schmeißt ihre Jacke hin und lässt Timo im Flur stehen. Statt sich zu ärgern, klingeln bei Timo sofort die Alarmglocken: „Was hab‘ ich verbockt? Ist sie sauer, weil ich die Wohnung noch nicht gesaugt hab‘? Oder weil das Essen noch nicht auf dem Tisch steht? Fuck, nein. Sie ist sauer, weil ich immer noch kein Job habe, im 18. Semester herum dümpel und ihr immer noch nicht das Geld für die Couch zurückgezahlt habe.“
Timos Fehlinterpretation von Susis Verhalten führt dazu, dass er Schuldgefühle hegt, die eigentlich nicht angebracht sind. Susi ist einfach nur von ihrem ätzenden Job mit ihrem ätzenden Chef genervt. Timo fühlt sich schuldig für die schlecht Laune seiner Freundin und denkt sich: „Ich fühle mich schuldig. Ich muss etwas falsch gemacht haben. Ich bin Schuld.“ Doch in Wahrheit ist dies ein gedanklicher Trugschluss. Timos negative Emotionen entstehen, weil er das Gefühl hat einer wichtigen Person in seinem Leben zu schaden und sie zu verlieren; daher fühlt er sich schuldig und gibt sich selbst die Schuld an der schlechten Laune seiner Freundin.
Doch nicht jede Person würde sich wie Timo verhalten. Viele Menschen würden Susi anschnauzen. Andere wiederum würden sich um Susi sorgen. Doch Menschen, die anfällig für Schuldgefühle sind, suchen – und finden – die Schuld bei sich selbst, was letztendlich in Frust und Verbitterung enden kann.
Entstehung von Schuldgefühlen: Wieso fühlen sich manche Menschen schuldig und andere nicht?
Warum gibt es also Menschen, die eher von Schuldgefühlen geplagt werden als andere? Wieso suchen manche Menschen immer nur die Schuld bei den anderen? Und wieso finden andere Menschen immer nur die Schuld bei sich? Naja, um ehrlich zu sein, ist die genaue Ursache noch relativ umstritten. Doch worin sich Forschende einig sind, ist dass Schuldgefühle in der Kindheit entstehen: Traumata, Vernachlässigung, der übliche Wahnsinn.
Das Psychologen-Paar Joan und Erik Erikson sehen die Ursprünge von Schuldgefühlen ebenfalls im Kindesalter. In ihrem bahnbrechenden Werk Childhood and Society verorten die Eriksons die Entstehung von Schuldgefühlen im zarten Alter von drei bis sechs Jahren. In diesem Alter sind Kinder mit der Erkundung ihrer Umwelt beschäftigt, da sich sowohl ihre motorischen als auch kognitiven Fähigkeiten schlagartig verbessern. Obwohl sie ständig unterwegs sind und vieles neu entdecken bleibt die Ursprungsfamilie (also Eltern und Geschwister) die bedeutendste Beziehung.
Erikson sagt, dass Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren in dieser Lebensphase eine psychosoziale Krise durchstehen müssen: Initiative vs. Schuldgefühl. Für Erikson bedeutet Initiative so viel wie Ansporn oder Motivation etwas zu bewerkstelligen: „Yet, initiative is a necessary part of every act, and man needs a sense of initiative for whatever he learns and does, from fruit-gathering to a system of enterprise.“ (Und ja: mit „man“ meint er bestimmt auch „woman“ – der alte Chauvi.)
Im Gegensatz zu Schuldgefühlen, die den Menschen zurückhalten, beflügelt Initiative. Sie trägt dazu bei, dass Menschen das erreichen, was sie sich vornehmen – sei es Obst pflücken oder eine Firma zu gründen. Ohne Initiative zweifelt der Mensch ständig an seinen Fähigkeiten und Wünschen und stagniert statt zu gedeihen.
Nach Erikson finden Schuldgefühle ihren Ursprung in dieser Lebensphase, da sich 3- bis 6-Jährige erstmals ihren sensomotorischen und kognitiven Fähigkeiten bewusst werden: In diesem Alter sind Kinder neugierig; sie probieren viel aus; sie verspüren erstmalig Rivalität mit Gleichaltrigen und kämpfen um die Aufmerksamkeit der Älteren. Tagsüber fantasieren Kinder und stellen sich vor, sie seien Riesen, Tiger, Superheldinnen. Und nachts werden sie von Albträumen geplagt, in denen sie um ihr Leben rennen müssen.
Zwangsläufig brechen Kinder in dieser Phase Tabus, während sie ihre Grenzen ausloten. Wenn Eltern ihren Kindern dann vermitteln, dass die Wünsche des Kindes unmoralisch und falsch seien, entstehen erste Gefühle der Schuld. Zunächst kann ein Kind dies nicht zuordnen: woher soll es auch wissen, was richtig und was falsch ist – es probiert ja einfach nur aus. In dieser Lebensphase werden also die Weichen gestellt für das restliche Leben des Kindes. Wie Erikson sagt, geht es um sehr viel: „Here the most fateful split and transformation in the emotional powerhouse occurs, a split between potential human glory and potential total destruction.“ Für Erikson geht es hier um nicht weniger als den Kampf zwischen glanzvoller Ehre und totaler Zerstörung des emotionalen Kraftzentrums des Kindes.
(mw)
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