Entstehung – Der Aufstand der Zwiespältigen

Entstehung – Der Aufstand der Zwiespältigen

Jeder spinnt auf seine Weise – der eine laut, der andere leise.“ 

Joachim Ringelnatz, Unbekanntes Tinderprofil 

Zwiespalt und Eindeutigkeit 

Zwiespalt wird im ersten Google-Treffer als “inneres Uneinssein; Unfähigkeit, sich für eine von zwei Möglichkeiten zu entschließen, ihr den Vorrang zu geben” definiert. Also der unfähige Typ, dem es schwer fällt einen beherzten Entschluss zu fassen und zu feige ist, ihn umzusetzen. Somit bleibt ihm der Erfolg fern, denn dieser ist ja bekanntermaßen die Summe einer Vielzahl mutiger Entschlüsse und ihre rigorosen Ausführung. Schließlich ist ja keiner bereit, dich für deine Reflexion und Zweifel zu bezahlen und zu bewundern.  

Optionsflut und Zweifel als Hauptstressor der Leistungsgesellschaft 

Dieses Dilemma ist ein Dauerbrenner einer zivilisierten Gesellschaft. Schon die Römer wurden von Entscheidungen gequält: kurze oder lange Tunica? Wagenrennen oder Gladiatorenkampf? Stoizismus oder Epikureismus? Dröger aber sicherer Verwaltungsjob oder Kunst und Bruch der Familientradition? Glauben an das Gute der Fortschrittsexpansion oder eine heimliche Bewunderung freiheitsliebender Vandalen? Natürlich waren die Optionen stark bestimmt von Geschlecht, Kaste, Herkunft. Frauen waren selbstredend nicht rechtsfähig. Plebejer lebten sich in Karrieren als Bauern, Handwerker oder Kaufleute aus. Sklaven als Sklaven. Aber auch sie – und jede andere Zivilisation – traf der Stress der Optionswahl mit voller Härte. 

Bezogen auf heutige Ichs und Dus verdarb bereits die Pubertät die Lust an der Entscheidungsfindung: Hausaufgaben oder Hängen? LK Bio oder Kunst? Feste Beziehung oder jedes Wochenende Rumknutschen? Und so ähnlich geht es unaufhörlich weiter: Ausbildung oder Studium? Lernen oder Feiern? Master oder Reisen? Eiweiß oder Zucker? Zusammenziehen oder Schlussmachen? Kinder oder Karriere? Einschreiten oder Wegschauen? 

Aus allen Kanälen prasseln die Möglichkeiten nur so auf uns ein und überfordern unser armes Gehirn. Und noch bevor du auch nur zwei Absätze deines Dokuments tippen kannst, dämmert der Spätnachmittag. Frustriert klappst du dein Laptop zuohne deine Tabs zu schließen –, und triffst deine Freundin auf einen Kaffee. Erst jetzt sinkt dein Stresslevel, während ihr trinkt und euch unterhaltet. Morgen wird ein besserer Tag, versicherst du dir an diesem (und jedem anderen) Abend.  

Zwiespalt im Visier der „Positiven Psychologie“ 

Und genau an diesem Punkt kommen Achtsamkeitstrainer, Coaches und andere Influencer ins Game. Ihre Botschaft ist so klar wie eindeutig: Der Zwiespalt ist was Böses. Einer einzigartigen und achtsamen Person wie dir kann er außer Verlangsamung und daraus resultierender Stress nichts geben. Deshalb weg mit Grübel, Zweifel, unbequemen Menschen und negativen Energien. Und her mit Positiver Psychologie, Besseren Gedanken und „Gedankenhygiene“. Fokussiere dich auf das Wichtigste in deinem Leben – auf DICH! Hoch lebe der Individualismus, nieder mit dem Zweifel! Und vergiss bitte nicht, auf Follow zu klicken und dein persönliches Life-Coaching zu buchen. Ansonsten bist du selber schuld.

Verbannung des Zwiespalts durch den Positivismus 

Der Zwiespalt soll also spätestens jetzt die Party verlassen. Abgesehen vom Zwiespalt müssen auch einige seiner komplizierten Freunde gehen: Alles negative, unfertige, minderwertige, aber auch fachsprachliche oder einfach nur zu komplizierte. Bleiben darf das angenehme, positive, geschmackvolle, einfache, minimalistische, cleanverhipsterte und clevere. Content und Ästhetik, welche die feine Linie zwischen Marketing und Psychologie punktgenau treffen und die Zielgruppe mit einer Wolke der simplen Sinnfindung einnebeln. Nichts ist plump, wie bei Trump, der AfD oder irgendwelchen Muskel-Erfolgs-Atzen; und schon gar nicht so dilettantisch wie bei den Esoterikern oder Reichsbürgern. Die Zielgruppe ist nämlich das städtische Leitmilieu – also du und ich – mit ihrer Bildung, ihrem Sinn fürs Feine und Bedürfnis nach Individualismus und Sinnhaftigkeit. Und die Geduld dieser Zielgruppe, die will man auf keinsten überreizen, während man auf dem Cembalo ihrer Bedürfnisse spielt.  

Wut und Verzweiflung der Zwiespältigen 

Und während die abgewichste Pastell-Gang die Durchschaubarkeit ihrer Opfer belächelt und die Kohle der Coachings, Bücher, Kalender und Kurse in VW-Bullys, Digital-Nomading und Onlineprojekte steckt, braut sich auf der Straße etwas zusammen. Nachdem sich Scham, Verzweiflung und blinde Wut normalisieren, beschleicht die Zurückgebliebenen ein unheimliches Gefühl. Das Gefühl einer unausgesprochenen, und doch großen Ungerechtigkeit. Natürlich will man nicht als Nestbeschmutzerin und Verschwörungstheoretikerin dastehen. Aber irgendetwas kann doch nicht stimmen, wenn Worte verbannt, Sprache positiviert und Namen nicht ausgesprochen werden dürfen. Ein Gedanke, dass der eigene Makel vielleicht doch gar kein Makel ist, und wenn doch, zumindest als Makel bezeichnet werden dürfte.  

KLARKOMMEN als graue Heroine des Zwiespalts 

Genau diese Stimmung wittert eine andere Entrechtete, die jetzt auf die Bühne tritt. Selbst ausgestoßen und mit vielen Komplexen behaftet, empfindet sie tiefes Mitgefühl für die Elenden und Toxischen. Ebenso nicht willkommen in der skandinavisch-minimalistischen Welt des Positiven, sinnt sie mit gedämpft brodelnder Wut auf Revolution – eine Revolution der Zwiespältigkeit. Nein, KLARKOMMEN ist keine Mutter Theresa. Sie sieht sich aber als fiktive Arya Stark ohne Königsblut und Messer.  

KLARKOMMEN als Teil der Gilde 

Bevor sich KLARKOMMEN also an die Spitze der Zwiespältigen stellt, wollen wir sie kurz vorstellen. Denn einiges haben KLARKOMMEN und die Gilde gemeinsam:  

  • Wokeness

Gleich der Gilde erschließt sich KLARKOMMEN einen Markt in einem woken Thema, in dem es besonders leicht ist, sich als besonders tugendhaft, moralisch und auf der richtigen Seite zu zeigen, um dann ein Produkt für Nachhaltigkeit bewerben zu können. So positioniert sich die kleine Flunkerfee als konsumkritische Realismusverfechterin im Kampf gegen deinen Stress, Glückszwang und Optimierungswahn.

  • Informationen zur Stressbekämpfung und Psychologie  

Wie die Gilde zielt auch KLARKOMMEN darauf ab, Menschen über Stressbekämpfung und Psychologie zu informieren. Natürlich ist KLARKOMMEN nur ein Stück Papier. Echte Hilfe – also Linderung von Leid in seelischer Not und Behandlung psychischer Krankheiten – leisten weder KLARKOMMEN noch die Gilde, sondern Psychotherapeuten.   

  • Unternehmertum, Copycating und Selbstverwirklichung  

Und tatsächlich outet sich KLARKOMMEN als lupenreine Kapitalistin. Geprägt durch die eigenen widersprüchlichen Triebe und Bedürfnisse streben ihre Schreiber nach finanzieller Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung. Ihre in psychologischen Tagesdosen und Tageskopfficks verpackten Ratschläge stellt KLARKOMMEN schließlich nicht kostenfrei zur Verfügung.   

Dabei ist KLARKOMMEN am Ende des Tages ein Copycat. Sie analysiert ihre Zielgruppe (Schüler, Studenten und Yuppies zwischen 1840 und interessierte Mittelschichtler zwischen 3555, die den Wunsch hegen, sich zu organisieren, Ziele zu erreichen, Sinn zu finden und ihren Stress zu bekämpfen); findet Produkte mit einem Proof-of-Concept (Kalender und Journals der Gilde, vor allem: KLARHEIT, EIN GUTER PLAN, 6-Minuten-Tagebuch, DRANBLEIBEN, 21/90 Erfolgsjournal, Change Journal); und dann versucht sie, sie an den allgemeinen Merkmalen (Marketing, Design, Kalenderkonzept) nachzuahmen, um den Markt zu sprengen. Und bietet schließlich Verbesserungen an (Investigativjournal, KLARKOMMEN Sprache als Stilmittel, mehr Offenheit, Vulgarität), die ihr Alleinstellungsmerkmal sein sollten. Ohne einen unternehmerischen, journalistischen und werberischen Background ihrer weißen, männlichen Schreiber wäre dies nicht möglich. 

Schließlich wollen ihre Macher sich selbst verwirklichen. Wie viele Gründerinnen – davon kann man wohl nach 2 Jahren Arbeit neben dem Job wohl sprechen – haben sie Ehrgeiz, narzisstische Züge und Komplexe. Sie mögen das Schreiben, haben Interesse an Psychologie und versuchen sich in Satire. Wie alle Unternehmer / Texter wollen sie Anerkennung für ihr Baby. Sie sind verdrossen wegen des omnipräsenten Marketings, das aus ihrer Sicht Gutmenschentum wie die „Sorge um den Patienten“, den Optimierungszwang und den Egozentrismus („Ein Buch über DEIN Leben“) nutzt, um Gildeprodukte zu pushen. Wieso sieht KLARKOMMEN sich sonst dazu berufen, ohne psychotherapeutische Approbation die Gilde bloßzustellen und sich moralisch über sie zu erheben? Vielleicht durfte KLARKOMMEN nicht mitspielen? Befindet sie sich selbst im Zwiespalt und Selbstfindung? Und woher rührt ihre Wut und Verbitterung? Darüber darfst du selbst urteilen. 

KLARKOMMEN als Ergänzung der Gilde 

Gleichzeitig hofft KLARKOMMEN dann doch darauf, die Zielgruppe und die Welt der Gilde etwas zu bereichern. Hier also der KLARKOMMEN Pitch: 

  • Investigativjournal 

Das Investigativjournal ist KLARKOMMENS Baby. In einer täglichen Tagesdosis wird ein psychologisches Thema erläutert und in einer Frage à la Max Frisch (Der Tageskopffick) im Kontext deines Lebens gebracht. Du lernst was dazu und brichst innere Konflikte auf. Genial, nicht wahr? 

  • Kritisch und „Witzig“

Nein, KLARKOMMEN hat die Ehrlichkeit nicht erfunden. Die findige Gewissensgouvernante flunkert immer wieder gerne. Sie hat sich aber ganz fest vorgenommen, Totgeschwiegenes auszusprechen, Negatives mit seinem negativen Klarnamen abzudrucken und gemäß dem Prinzip der argumentativen Dreifaltigkeit die schlechten Seiten „positiver“ und die guten Seiten „negativer“ menschlicher Bedürfnisse und Emotionen schonungslos auseinanderzunehmen. Ebenso will sie probieren, genau das Maß an „Humor“ zu entwickeln, die eine inhaltliche Auflockerung der Selbstoptimierungsmaterie gepaart mit dem Talent der Schreiber hergibt. Und an dieser Stelle verbeugen wir uns vor unserer Inspiration.

  • Glücksdiktatskritisch und Optimierungsfeindlich

Schließlich hat sich KLARKOMMEN zum Ziel gesetzt, der Positivismusbranche – deren Teil sie nun mal ist – eine kleine Handbremsenkur zu verabreichen. Denn auch wenn du nicht glücksgrinsend und durchoptimiert, sondern leicht übergewichtig und mit Augenringen durch dein Leben strauchelst, bist du keine Versagerin. Von seiner Gildekollegen lässt sich KLARKOMMEN nicht gaslighten – und wünscht dir dasselbe. Wenn du mehr zum Thema wissen willst, dann beispielsweise hier, hier oder hier.

KLARKOMMEN und die 12 Zwiespältigen 

Und so stieg KLARKOMMEN herab und sprach zu den Zwiespältigen. Es versammelten sich deren 12. Und KLARKOMMEN sprach zu jedem einzeln. Zunächst nannte sie jedem seinen wahren Klarnamen. Danach den Namen seiner Schwester oder Bruders unter den Positiven. Denn mit dem Geschwister bildest du ein Tandem und trachtest nach dem Stressor des Patienten. Und jeder sollte von den Schreibern auf den KLARKOMMEN seiten Erwähnung finden, und manchmal eine ganze Überschrift. 

 

Die Vollwertigen 

Die Zwiespältigen 

Klarheit 

Zweifel 

Gute Gedanken 

Grübeln 

Positive Emotionen 

Negative Emotionen 

Ganzheitlichkeit 

Unvollkommenheit und Schwäche 

Struktur 

Chaos 

Freude 

Trauer und Melancholie 

Dankbarkeit 

Angebrachte Kritik oder Wut 

Achtsamkeit 

Gedankenlosigkeit 

Selbstliebe 

Selbstkritik 

Selbstfürsorge 

Fremdfürsorge 

Ziele erreichen und Habits tracken 

Darauf scheissen

 

Und so sollten auch die Zwiespältigen zum Zuge kommen.  

 

Sturm der Positivistenparty und Zeitalter des Zwiespalts 

Und so stürmten die Elenden die Party und vereinigten sich mit ihren Brüdern und Schwestern. Zweifel, Grübel und Chaos gingen zu Eindeutigkeit, Guten Gedanken und Struktur; Kritik und Wut vereinigten sich mit der Dankbarkeit; Fremdfürsorge schlief mit Selbstfürsorge usw. Nach einigen Querelen und rechtlichen Androhungen vereinigten sich auch KLARKOMMEN und die Gilde. Und so wurde ein neuer Weg bestritten: die Legitimation des Zwiespalts. Und die Gilde engagierte Ghostwriter und echte Psychologen und erstellte Alternativprodukte, die den Zwiespalt bejubelten.  

KLARKOMMEN beginnt 

Und so beendete KLARKOMMEN die Orgie und bat die verschmolzenen Zwiespältigen auf ihre Plätze in ihren Kapiteln. Und weil KLARKOMMEN ein Buch sein wollte, begann es mit dem wichtigsten, was DU in DEINEM Leben hast, nämlich mit DIR und DEINEN MITMENSCHEN.  

Wer schrieb KLARKOMMEN?

KLARKOMMEN ist eine sie. Aber dennoch ist sie hauptsächlich das Produkt zwei weißer, mansplainender, europäischer Männer (einer wahrscheinlich auch schon „alt“). Unterstützung gab es von wunderbaren bezahlten und unbezahlten Helferinnen. Alle werden nachfolgend in der gebotenen Länge, bei Wunsch anonymisiert und in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt: 

Andre Kraus 

Andre Kraus ist neben Michael Watson einer der beiden KLARKOMMEN Schreiberlinge. Er lebt in Köln, ist Anwalt, mittelgroßer Kleinunternehmer, Möchtegernphilanthrop und Küchenpsychologe. Das Bedürfnis, seinem sehr gemochten Beruf eine künstlerische, aber auch nützliche und wirtschaftlich selbsttragende Ergänzung zu geben, kam KLARKOMMEN ideal entgegen. Das seiner Ansicht nach perfide schöngefärbte und vom Marketing durchsetzte Feld der Selbstoptimierung und Achtsamkeit bot ein ideales Feld für eine „Kaperung“ durch Schonungslosigkeit, Wissenschaftlichkeit und Humor. 

 

Michael Watson 

Michael Watson ist neben Andre Kraus einer der beider KLARKOMMEN Schreiberlinge. Er lebt in Mannheim, ist Politikwissenschaftsstudent, Textualarbeiter, Möchtegernautor und Küchenpsychologe. Seinem Bedürfnis, seinen anstrengenden Broterwerb und das bislang brotlose Studium durch ein sich wirtschaftlich selbsttragendes, aber fachlich und künstlerisch anspruchsvolles Projekt zu ersetzen, kam KLARKOMMEN ideal entgegen. Das seiner Ansicht nach oberflächliche Feld der Selbstoptimierung und Achtsamkeit bot ein ideales Feld für eine „Kaperung“ durch Schonungslosigkeit, Wissenschaftlichkeit und Humor. 

 

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