Scham in der Psychologie: Schämen heißt mehr als rot werden

Scham in der Psychologie: Schämen heißt mehr als rot werden

  • Scham ist „Sozialer Klebstoff“ – er trägt zu unserem Funktionieren als soziale Wesen bei
  • Physiologische Effekte wie Bauchschmerzen, Schweiß und das Rote-Backen-Syndrom
  • Der prophylaktische Scham ist ein destruktives Grundgefühl des Schams – er lähmt und hält ab
  • Ursprung der Scham ist nach Eriksen die Kindheit
  • Scham bleibt oft unerkannt und führt zu Wutreaktion gegen sich selbst

Von der alltäglichen zur destruktiven Scham

 

Scham ist eine ziemlich weirde Sache. Einerseits gibt es die alltägliche Scham, die wir alle kennen. Keine Gesprächsthemen beim ersten Date: peinlich. Vorzeitiger Samenerguss: peinlich. Furzen im Yoga: peinlich. Selbst in unseren Träumen sucht uns die Scham heim, wenn wir entweder nackt oder in voll urinierten Hosen vor unseren Peers stehen.

Diese alltägliche Scham hat uns die Evolution mit auf den Weg gegeben, damit wir als soziale Wesen funktionieren können. Denn Scham ist nichts anderes, als das Gefühl, wenn wir gegen soziale Regeln oder Normvorstellungen verstoßen und gesellschaftliche Konsequenzen befürchten: Nachdem wir im Yoga pupsen und die Mit-Yogis mit unserem Gestank belästigen, schämen wir uns und versuchen in Zukunft solches Verhalten zu unterbinden, da wir sonst bald nicht mehr im Yoga-Kurs willkommen sind. Evolutionär betrachtet, ist Scham also ein sozialer Klebstoff, der uns ein Leben in Gemeinschaft ermöglicht.

Doch so hilfreich Scham in solchen alltäglichen Situationen sein kann, desto destruktiver kann ein Grundgefühl der Scham (also „prophylaktischer Scham“) sein. Dieses Grundgefühl der Scham tritt ein noch vor deinem vermeintlichen Fehlverhalten und hindert dich Tätigkeiten zu verfolgen: Du hast Angst beim Yoga zu furzen und dich zu blamieren – deshalb gehst du gar nicht erst hin.

Scham in der Psychologie: Schämen heißt mehr als rot werden

Die Psychologie untersucht Scham schon seit Jahrzehnten, wobei sich in den letzten Jahren ein besonderes Interesse aufgetan hat. In der Forschung geht es um eine komplexe Auseinandersetzung mit dem Gefühl von Scham: Warum schämen wir uns? Wann schämen wir uns? Wann ist schämen gut, wann schlecht? Schämen wir uns vor manchen Personen mehr, vor anderen weniger? Was ist Fremdscham? Und so weiter.

Bei einer Sache sind sich Forschende einig: Scham ist nicht nur das Erröten nach dem Pups im Yoga. Scham kann Menschen lähmen, sodass Kreativität nicht ausgelebt, Ambitionen nicht verfolgt und Selbstverwirklichung niemals realisiert wird. Solche Personen sind meist nicht lethargisch, blöd oder unkreativ: Scham hält sie davon ab, vor andere Menschen zu treten und zu zeigen, was sie drauf haben. Im schlimmsten Fall kann dies zu schlimmen psychischen Störungen, wie Depression, führen.

In der Entwicklungspsychologie wird der Ursprung von Scham in der Kindheit verortet. (Keine Angst: das wird jetzt kein Elternratgeber mit Erziehungstipps. Allerdings ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit zwingend, um gegenwärtige Schamgefühle zu verstehen.)

Psychologische und kulturelle Ursprünge von Scham

Grundsätzlich wird in der Psychologie zwischen Scham und Schuld unterschieden. Um bei unserem bildhaften Beispiel zu bleiben:

  • Schuld: Ich habe im Yoga gepupst, weil ich vor dem Ashtanga-Kurs Hummus mit Falafel gegessen habe. Nächstes Mal esse ich lieber Salat.
  • Scham: Ich habe im Yoga gepupst, weil ich ein ekelerregender Mensch bin. Ich werde meine Blähungen niemals zügeln können.

Wie schon erwähnt, hat Scham einen evolutionären Nutzen: Scham drängt uns nämlich die Normvorstellungen unserer Gesellschaft zu erfüllen. Ohne die Scham würden wir alle einfach das tun, worauf wir Bock hätten und würden ohne schlechten Gewissen unseren Trieben gehorchen. Sobald wir uns bei einem vermeintlichen Fehlverhalten ertappt fühlen, schämen wir uns. Meist geht dies mit körperlichen Signalen einher, die unseren Mitmenschen zeigen, dass uns ein Regelverstoß bewusst ist.

Scham wirkt sich nämlich nicht nur auf die Psyche aus, sondern hat auch physiologische Komponenten. Ganz vorne mit dabei: rot werden. Andere typischen „Scham-Symptome“ sind erhöhter Herzschlag, Bauchschmerzen oder Schweißausbrüche. Wir selbst empfinden diese Reaktionen meistens als sehr unangenehm, da sie oftmals das Gefühl von Scham zusätzlich verstärken. Doch Studien haben gezeigt, dass Menschen wohlwollender gegenüber Probanden sind, die in einer peinlichen Situation rot werden. Das Erröten signalisiert unseren Mitmenschen nämlich, dass uns ein Regelverstoß bewusst ist und wir uns deswegen schlecht fühlen.

Alles schön und gut: Scham lässt uns Menschen als soziale Wesen friedlich zusammenleben. Doch was passiert, wenn die Normvorstellungen der Gesellschaft völlig entartet sind? Was ist, wenn Werbung, Konsum und die anderen Verdorbenheiten des 21. Jahrhunderts unsere Werte und Normen völlig korrumpiert haben, sodass nur noch ein anorektisches, neurotisches kleines Etwas übrig bleibt?

Die Theorie hinter Scham in der Entwicklungspsychologie: Erik Eriksons Stufenmodell

Für den Entwicklungspsychologen Joan und Erik Erikson ist der große Gegenspieler von Scham die Autonomie. Autonomie nimmt Menschen das Grundgefühl von Scham, sodass korrumpierte Normvorstellungen gar nicht erst Einfluss nehmen können. Die Eriksons postulierten, dass Scham in der frühen Kindheit entsteht: Im Alter von 2–3 Jahren müssen Kinder einen inneren Konflikt zwischen Scham und Autonomie austragen.

In seinem bahnbrechendem Buch Childhood and Society erklärt Erik Erikson, dass er Scham nicht nur als Erröten nach einer peinlichen Handlung auffasst. Vielmehr sei Scham ein Gefühl, dass die eigene Wahrnehmung und Selbstbeobachtung beeinflusse. Darüber hinaus führe Scham zu bestimmten Verhaltensweisen, die ziemlich awkward seien.

Nach Erikson entsteht Scham in der frühen Kindheit, da dies das Alter des „Greifens und Loslassens“ ist. Zwei- und dreijährige Kinder greifen nach allem, was nicht niet- und nagelfest ist und halten sich dann entschlossen fest. Genauso schnell wie sie sich an etwas Klammern, kann es aber passieren, dass sie es fallen lassen. Erikson sagt, dass dieses Greifen und Loslassen sich auch in der Psyche niederschlägt. Sowohl Halten als auch Loslassen kann mit Wohlwollen oder Abweisung einhergehen:

  • Wohlwollendes Halten: Sorgfalt und Zuwendung
  • Abweisendes Halten: Klammern
  • Abweisendes Loslassen: Fallen lassen
  • Wohlwollendes Loslassen: Passieren lassen, Dingen ihren Lauf lassen

Erikson rät Eltern daher ihre Kinder in dieser Phase entschieden aber ermutigend in ihren Unterfangen zu unterstützen. Dabei sollen sie ihre Kinder durch die „Anarchie ihrer Launen“ begleiten und vor Eigensinnigkeit und selbstzentriertem Anspruchsdenken schützen.

Außerdem müssen Eltern dafür sorgen, dass ihre Kinder in der frühen Kindheit – also die Zeit, in der sie ermutigend werden, buchstäblich auf eigenen Beinen zu stehen – keine willkürliche Scham von Außen erfahren. Stattdessen, so Erikson, sollen Eltern ihre Kinder durch die Autonomie der freien Entscheidung begleiten und ihnen diese lehren – eine Art Mentor der Autonomie also.

Wenn Kinder ohne einen wohlwollenden Mentor ihre Autonomie ausloten, führt dies oftmals dazu, dass Kinder beschämende Reaktionen aus ihrem Umfeld erfahren: Sie werden ausgelacht oder bekommen Schimpfe, ohne zu erfahren, was sie falsch getan haben. Statt neue Tätigkeiten auszuprobieren, werden sie im Heimlichen obsessiv wiederholt, bis das Kind eine Handlung perfekt ausführen kann. Doch diese Perfektion wird nie erreicht und das Bewusstwerden dieser Tatsache lähmt weitere Autonomie des Kindes. So wird schon in der frühen Kindheit der Grundstein für das Grundgefühl der Scham im Erwachsenenleben gelegt. Deep shit, wa?

Was ist Scham: Definition nach Erik Erikson

Für Erikson ist Scham das Gefühl der völligen Entblößung; ein Gefühl der Verunsicherung. Scham ist das Gefühl angestarrt zu werden, in einem Moment, in dem man nicht angestarrt werden will. Wenn wir uns schämen, wollen wir einfach nur im Boden versinken. Doch Erikson geht sogar einen Schritt weiter, wenn er sagt: „But [shame], I think, is essentially rage turned against the self.“ Wer sich schämt, möchte mit aller Wucht die Blicke von sich werfen und wünscht sich für den Moment unsichtbar zu sein.

Wenn die Gesellschaft einer Person zu oft das Gefühl von Scham vermittelt („shaming“), wird diese Person das vermeintliche Fehlverhalten in Zukunft nicht verbessern, erklärt Erikson. Stattdessen entwickeln solche Personen eine geheime Entschlossenheit, mit ihrem Verhalten unentdeckt durchzukommen. Im schlimmsten Fall kann das ein solches Shaming sogar in trotziger Schamlosigkeit münden. Denk hierfür einfach an Frank Gallagher aus der TV-Serie „Shameless“.

https://www.youtube.com/watch?v=7wY7A6txacg

 

Erikson sieht Scham als Gegenspieler zu Autonomie. Wer in der frühen Kindheit diesen Konflikt nicht „erfolgreich“ austrägt, wird im späteren Erwachsenenleben die Folgen stets spüren. Statt Selbstentfaltung überwiegt dann Selbsterdrückung. Im Optimalfall führt die Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstvertrauens zu Wohlwollen und Stolz. Der Verlust der Selbstbeherrschung durch Kontrolle von Außen mündet allerdings in Zweifel und Scham: „This stage, therefore, becomes decisive for the ratio of love and hate, cooperation and wilfulness, freedom of self-expression and its suppression. From a sense of self-control without loss of self-esteem comes a lasting sense of good will and pride; from a sense of loss of self-control and of foreign overcontrol comes a lasting propensity for doubt and shame.”

Scham als Erwachsener: Das große Hindernis zur Selbstverwirklichung

Puh. Ganz schön deeper shit, was der alte Erikson da so erzählt: Der Ursprung von Schamgefühlen liegt also in der Kindheit. Heißt das dann, dass unser Scham-Schicksal für uns entschieden wurde, noch bevor wir richtig laufen können? Weder KLARKOMMEN noch irgendjemand anderes kann dir das mit Sicherheit sagen. Doch Wissen, Erkenntnisse und Selbstreflexion können helfen eigene Muster zu erkennen und diese schließlich aufzubrechen.

Die Wissenschaftlerin Brené Brown hat die letzten zwei Jahrzehnte mit Forschung zu Verletzlichkeit, Empathie, Mut und Scham verbracht. Ihre TED-Talks zum Thema haben Abermillionen Menschen erreicht und inspiriert. Darin erklärt sie, dass viele Menschen Jahrzehntelang durch’s Leben gehen, ohne sich bewusst zu werden, dass ihre Scham sie zurückhält. In ihren Vorlesungen öffnet Brown diese Blackbox der Scham und zeigt Verhaltensweisen auf, die vom Schamgefühl beeinflusst werden, aber die nicht als solche wahrgenommen werden.

Scham ist nämlich viel mehr als das Vermeiden von Augenkontakt, wenn dir kein Gesprächsstoff beim ersten Date einfällt. Scham ist nicht nur die peinliche Stille, wenn du nach 30 Sekunden leidenschaftlichen Sex erschlaffst. Und Scham ist nicht nur das rot werden, nachdem du beim Herabschauenden Hund einen fahren lässt. Scham kann dein Leben paralysieren und zur Stagnation führen.

Scham hegt Angst neues auszuprobieren, weil dich der Gedanke nicht loslässt, dass du verkacken wirst. Scham hindert dich in deiner Kreativität, da du beim Kreieren zwangsläufig etwas noch nicht dagewesenes erschaffst – und du somit ein großes Risiko eingehst, dich zu blamieren, ausgelacht zu werden und dir vor allen Menschen in die Hosen zu machen. Scham ist der kleine Bastard, der dich in Angesicht von Großartigkeit zurückhält; dir Angst einjagt und in dein Ohr flüstert: „Weißt du noch, als du im Sportunterricht immer als letztes gewählt wurdest? Weißt du noch, als Mama dich an Weihnachten fett genannt hat? Weißt du noch, als du vor deiner gesamten Familie am Esstisch deswegen geweint hast?“

Was macht Scham mit mir?

Egal wie gut deine Ideen oder wie hoch deine Ambitionen sind: Scham hält dich zurück und verwehrt dir Erfolg. Und während die Thomas Edisons dieser Welt 999 Versuche benötigen, um die Glühbirne zu erfinden, stehst du Hintergrund und traust dich nicht deine Lösungen zu präsentieren. Scham hat dabei stets dieselben Kernbotschaften. Die erste davon lautet: „Du wirst niemals gut genug sein.“ Diese Botschaft nimmt dir den Wind aus den Segeln, noch bevor du dich in dein Boot gesetzt hast. Die zweite Kernbotschaft von Scham richtet sich an diejenigen, die den Schritt wagen und sich trauen, etwas Neues zu präsentieren: „Wer denkst du eigentlich, wer du bist?“ Vielleicht kommt dir das bekannt vor: Instant Regret nach dem Abschicken einer Email und so.

Scham kann dich auch verführen und dir ins Ohr flüstern: „Warte noch kurz. Übe noch ein bisschen. Pfeile noch ein wenig an deiner Arbeit. Perfektioniere sie, bevor du sie präsentierst.“ Und so vergehen Monate und Jahre, in denen du deine Arbeit perfektionierst, bis du schließlich deinen Zeitpunkt verpasst und jemand anderes deine Lücke füllt.

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