- Unsere Bedürfnisse motivieren unser Handeln.
- Um unser Handeln zu verstehen, müssen wir also unsere Bedürfnisse kennen.
- Der Psychologe Henry Murray hat 20 menschliche Bedürfnisse gefunden.
Budda Bowl oder Brezel? Eine grundsätzliche Bedürfnisfrage?
Du sitzt an deinem Schreibtisch im Büro, surfst wahllos im World Wide Web und informierst dich über Lifehacks, die du niemals nutzen wirst. Ist denn schon endlich 13 Uhr? Kann ich schon mit gutem Gewissen Mittagspause machen? Deine Konzentration ist weg, dein Magen knurrt: Zeit zu essen. Falls du nicht das Glück hast, in einer Kantine essen zu können, musst du dir jetzt die vielleicht schwierigste Frage des Tages – wenn nicht deines Lebens – stellen: Was esse ich heute? Auch wenn das Ziel, dem Körper Energie zuzuführen, relativ leicht zu bewältigen wäre, fällt es dir schwer, eine Entscheidung zu treffen. Free-Range-Burger, triefend mit Käse und Fritten; oder vielleicht ein Beyond-Burger mit Vayonaise und Süßkartoffelpommes? Die mega-instagrammable Buddha-Bowl für 13,99 € oder vielleicht doch einfach zwei öde Brezeln für 0,58 € aus dem Kaufland? Eigentlich wäre es auch mal wieder an der Zeit eine intermittierende Fastenphase einzulegen und ein Glas lauwarmes Wasser zu trinken.
Vor dieser nervenaufreibenden Nahrungsjagd stehen Millionen privilegierte Menschen Tag für Tag. Und eins ist klar: Es geht bei diesem Ritual nicht um die bloße Zufuhr von Nahrung. Wieso entscheiden wir uns für die überteuerte Bowl, obwohl wir wissen, dass wir dabei für etwas Rohkost das sechzigfache des Einkaufspreises zahlen? Wieso holen wir uns den synthetischen, im Labor gezüchteten Beyond-Burger, wenn wir auch einen Free-Range-Burger von glücklichen Kühen essen könnten? Unsere Entscheidung, was wir zu Mittag essen, wird von einer Vielzahl an Faktoren beeinflusst. Zum einen: Geld und Verfügbarkeit. Zum Anderen hängt unsere Entscheidung aber auch von unseren Bedürfnissen ab. Denn Bedürfnisse bewegen unser aller Handeln – selbst beim Essen.
Motivationspsychologie: Wieso handeln wir so?
Doch was bewegt uns dazu die Buddha-Bowl den Brezeln vorzuziehen? Was bewegt uns, so zu handeln, wie wir es letzten Endes tun? Diese Frage beschäftigt Psychologen, Richter, eifersüchtige (aber auch fremdgehende) Partner schon sehr, sehr, sehr lange. Der große Themenbereich der Motivation füllt Sachbücherbände über Sachbücherbände; aber trotzdem gibt es noch keinen allgemeingültigen wissenschaftlichen Konsens. Doch wir können uns verschiedene Denker, Modelle und Sichtweisen vor Augen halten, um ein etwas besseres Verständnis darüber zu erlangen, was uns bewegt auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln. Einer dieser Denker heißt Henry Murray: Ein kontroverser Ami, dessen weirdo Psycho-Experimente in den 50ern wohl die Synapsen des Unabombers unwiderruflich beschädigte, so dass dieser Jahre später einen Terroranschlag in den USA verübte. Trotzdem ist Murray auch noch heute ein vielzitierter Psychologe, dessen Bedürfnisforschung immer noch einen Grundstein der Motivationspsychologie bildet. Genie und Wahnsinn und so.
Mehr als Saufen, Fressen und Vögeln: Menschliche Bedürfnisse nach Henry Murray
Für Henry Murray war das menschliche Verhalten zu komplex um jede Verhaltensweise mit den archaischen Trieben nach Sex, Nahrung, Wasser oder Wärme zu begründen. Diese biologischen Bedürfnisse allein konnten für Murray das menschliche Verhalten nicht erklären; weshalb er herausfinden wollte, was uns denn noch so motiviert. In einer großangelegten Studie isolierte Dr. Frankenstein-Murray 20 menschliche Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark ausgeprägt, aber können manche unserer Verhaltensweisen (und/oder Macken) ziemlich gut erklären.
- Demütigung: Aufgeben, sich Bestrafung unterwerfen und sie akzeptieren. Sich entschuldigen, gestehen, Selbstherabsetzung.
- Leistung: Hindernisse überwinden. Macht ausüben. Danach streben, etwas Schwieriges so gut und so schnell wie möglich zu tun.
- Geselligkeit: Freundschaften und Bindungen bilden. Andere grüßen, sich zu ihnen gesellen und mit ihnen leben. Mit anderen zusammenarbeiten und sich gesellig mit ihnen unterhalten. Lieben. Gruppen beitreten.
- Aggressivität: Jemanden angreifen oder verletzten. Einen Mord begehen, klein machen, verletzen, beschuldigen, lächerlich machen. Hart strafen. Sadismus.
- Autonomie: Beeinflussung oder Zwang widerstehen. Einer Autorität trotzen oder an einem neuen Ort Freiheit suchen. Nach Unabhängigkeit streben.
- Widerstand: Es stolz ablehnen, eine Niederlage zuzugeben, indem man es nochmal versucht und sich rächt. Die schwierigsten Aufgaben auswählen. Seine Ehre aktiv verteidigen.
- Verteidigung: Sich gegen Beschuldigung oder Herabsetzung wehren. Seine Handlung rechtfertigen. Beschönigende Erklärungen und Entschuldigungen anbieten. „Eindringlingen“ widerstehen.
- Ehrerbietung: Einen höherstehenden Verbündeten bewundern und ihm gern folgen. Mit einem Führer zusammenarbeiten. Gerne dienen.
- Dominanz: Andere beeinflussen oder steuern. Überreden, verbieten, vorschreiben. Führen und anleiten. Das Verhalten einer Gruppe organisieren.
- Selbstdarstellung: Die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Andere anregen, amüsieren, aufwühlen, schockieren, in Spannung versetzen. Selbstdramatisierung.
- Schadensvermeidung: Schmerz, physische Verletzung, Krankheit und Tod vermeiden. Aus einer gefährlichen Situation fliehen. Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.
- Demütigung vermeiden: Misserfolg, Beschämung Erniedrigung und Spott vermeiden Nichts tun, was außerhalb der eigenen Macht steht. Eine körperliche Entstellung verdecken.
- Pflege: Einen hilflosen Mitmenschen ernähren, ihm helfen oder ihn beschützen. Sympathie ausdrücken. Ein Kind „bemuttern“.
- Ordnung: Gegenstände ordnen, organisieren, weglegen, Sauber und ordentlich sein. Peinlich genau sein.
- Spiel: Sich entspannen, amüsieren. Abwechslung und Unterhaltung suchen. Spaß haben, spielen Lachen, witzeln und vergnügt sein. Ernste Anspannung vermeiden.
- Ablehnung: Jemanden brüskieren, ignorieren oder ausschließen. Distanziert und gleichgültig sein. Diskriminieren.
- Empfindung: Sinnesempfindung suchen und genießen.
- Sex: Eine erotische Beziehung eingehen und aufrechterhalten. Geschlechtsverkehr ausführen.
- Beistand: Hilfe, Schutz oder Sympathie suchen. Nach Hilfe rufen. Um Gnade bitten. An einen liebevoll pflegenden Elternteil hängen. Abhängig sein.
- Verstehen: Erfahrungen analysieren, abstrahieren, zwischen Begriffen unterscheiden. Beziehungen definieren. Ideen verbinden.
Bedürfnisse nach Henry Murray: 20 Erklärmuster für unser Verhalten
Na, erkennste dich wieder? Bei dem ein oder anderen Bedürfnis bestimmt schon. Oder vielleicht ein bisschen bei allen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass diese Bedürfnisse nicht statisch, sondern ständiger Veränderung ausgesetzt sind: Nur weil ich heute ein hohes Bedürfnis an Spiel habe, heißt das nicht, dass ich nicht morgen schon ein Craving nach Ordnung verspüre. Außerdem ist ein Schwarz-Weiß-Denken auch nicht Sinn der Sache: Unsere Bedürfnisse liegen nämlich auf einem Kontinuum. Das heißt, ich kann ein sehr hohes Bedürfnis an Spiel haben; ich kann aber auch ein sehr schwaches oder ein mittelmäßiges oder ein mittelhohes Bedürfnis an Spiel haben. Es ist nicht entweder oder. Wir Menschen sind immerhin mehr als nur Einsen und Nullen. Zumindest will unser Programmierer, dass wir das denken.
Bedürfnisse nach Henry Murray: Buddha-Bowl oder Bacon Burger?
Welches Bedürfnis befriedige ich also mit meiner überteuerten Buddha-Bowl; welches mit meinem Beyond-Burger? Welches unbewusste Verlangen nötigt mich dazu ganz auf’s Essen zu verzichten? Mein hohes Bedürfnis nach Selbstdarstellung könnte mich beispielsweise dazu treiben, mein Mittagsessen anhand der Instagrammability auszuwählen. Ich nehme den teuren Preis der Bowl dafür in Kauf, um im Internet ein bestimmtes Bild meines Ichs zu inszenieren. Mein Bedürfnis nach Geselligkeit könnte mich dahingehend bewegen, dass ich mich für einen Beyond-Burger entscheide, wenn ich von Vegetariern umgeben bin. Wenn ich mit meinen Bauarbeiterkollegen Mittag esse, würde ich dann eher zu einem triefenden Bacon Burger tendieren. Ist es schlecht, dass ich so handle, wie ich handle? Nö. Aber man sollte seine Bedürfnisse kennen, die einen zum Handeln antreiben.
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