Entwicklungspsychologie: Überblick über Theorien, Konzepte und Modelle

Entwicklungspsychologie: Überblick über Theorien, Konzepte und Modelle
  • Die Entwicklungspsychologie untersucht die Entwicklung des Menschen von der Geburt bis zum Tod.
  • Es gibt verschiedene Theorien, Konzepte und Modelle, die die Entwicklung des Menschen zu erklären versuchen.
  • Die Entwicklungspsychologie untersucht die Entwicklung von Eigenschaften, Überzeugungen, Denken und Fühlen.

Am Tag an dem wir aus dem wollig warmen Mutterleib in diese kalte, harte Welt herausgepresst werden, haben wir alle Eines gemeinsam: Wir sind kleine, schreiende, hilflose Dinger, die ohne die Fürsorge Anderer kaum Überlebenschancen hätten. Ein paar Jahre später haben wir nicht mehr viel mit dem kleinen Baby-Ich gemeinsam und unterscheiden uns auch sehr voneinander: Yuri, Mia und Jochen wurden alle am selben Tag im selben Krankenhaus geboren – doch abgesehen davon, haben sie nicht viel gemeinsam: Geisteswissenschaftler Yuri diskutiert heute über politische Correctness in der Uni-Mensa; Drogendealerin Mia steht in der Warschauer Straße und verkauft Party-Touristen mit Antidepressiva gestrecktes Koks; und Dachdecker Jochen steht bei jedem Wetter auf dem Dach, um seinem eigenen Nachwuchs eine schöne Kindheit zu bescheren.

Aber warum wurde Yuri Langzeitstudierender und Mia Drogendealerin? Wieso ist Jochen so pflichtbewusst, während Yuri und Mia so rumpimmeln? Was hat diese drei Menschen dazu getrieben sich so zu entwickeln? War alles von der Natur vorbestimmt und fest in ihrer DNA inskribiert? Oder waren es die Einflüsse der Umwelt, die sie dazu getrieben haben? Bei so viel Unklarheit ist eins sicher: Yuri, Mia und Jochen haben seit ihrer Geburt einen krassen Wandel hingelegt – von einem kleinen, schreienden Baby bis hin zu (mehr oder weniger) funktionierenden Erwachsenen.

Die Entwicklungspsychologie versucht den Fragen auf den Grund zu gehen, warum wir Menschen uns so unterschiedlich entwickeln und Jochen lieber Essays schreibt, während Mia lieber Raven geht. Dabei untersucht die Entwicklungspsychologie weniger Fähigkeiten, die wir uns angeeignet haben, als dass sie unsere Eigenschaften, Überzeugungen, unser Denken, unser Fühlen und unser Selbst untersucht.

ThemaEntwicklungspsychologie
ForschungsgebietPsychologie
Wichtige ForschendeSigmund Freud; Erik H. Erikson; Jean Piaget
SchlüsselbegriffeEntwicklung; Kindheit; Reifung; Erfahrung; Lernen; Genetik; Umwelt
ErkenntnissinteresseKogntive, emotionale und soziale Entwicklung des Menschen

Was ist Entwicklung? Körperliche, kognitive, emotionale und soziale Unterschiede

Die Entwicklung des Menschen umfasst natürlich vielmehr, als die Reifung unseres Geistes – und die körperliche Entwicklung hat natürlich auch Einfluss auf den Geist: Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als mein präpubertäres Ich beim Duschen nach unten blickte und da plötzlich ein einzelnes, mickriges Haar empor ragte. Es sah doof aus, so allein da unten, aber ich war trotzdem mit Stolz erfüllt: Ich war endlich ein Mann. Zugegeben: Das Sprießen des ersten Schamhaars ist ein verhältnismäßig unwichtiges Event im Leben und doch hat es in mir eine komplexe Kaskade an Gefühlen ausgelöst.

Doch was ist Entwicklung überhaupt und hört sie jemals auf? Schließt unsere Entwicklung als Mensch mit dem 18. Geburtstag ab? Oder durchgehen wir einer permanenten Entwicklung bis hin zum Tod? Im Mittelalter ging man beispielsweise davon aus, dass Kinder mit dem Erreichen des siebten Lebensjahrs erwachsen seien, da sie von da an arbeiten konnten. Heute zieht sich die Spätadolezens mancher Individuen bis in die späten 30er. Grundsätzlich müssen wir zwischen körperlicher und geistiger Entwicklung differenzieren. Die dramatischste körperliche Entwicklung findet in den ersten Jahren beim Menschen statt – von der Befruchtung der Eizelle bis zum ersten Schamhaar. Doch Entwicklung beschränkt sich nicht nur auf die Physiologie und Körper des Menschen, denn wir durchleben auch megamäßige kognitive, emotionale und soziale Reifung. Denk einfach an dein jüngeres Ich und schäme dich für einen Moment, wenn du dich an den Mist erinnerst, den du mal fabriziert hast. Du weißt genau, was ich meine.

Mit zunehmenden Alter erlernen wir Menschen Fähigkeiten, die uns dazu befähigen, ein soziales Leben führen zu können: Das Sprechen und Kommunizieren sind dabei natürlich von zentraler Bedeutung, aber auch Empathie und Kooperation sind lebenswichtige Fähigkeiten, die für das komplexe Sozialleben des Homo sapiens (das sind wir) unerlässlich sind.

Definition von Entwicklung: Gar nicht mal so einfach

„Entwicklung“ zu definieren ist gar nicht mal so einfach und es gibt viele andere Begriffe, die das ganze noch komplizierter machen: Was unterscheidet „Entwicklung“ von „Reifung“? Ist „Entwicklung“ das „Lernen“ neuer Fähigkeiten oder eher das „Wachstum“ der Fähigkeiten? Können wir einfach sagen, dass „Entwicklung“ gleichzusetzen ist mit „Veränderung“ oder „Fortschritt“?

Forschende haben einige grundlegende Fähigkeiten definiert, die der Mensch in bestimmten Lebensabschnitten lernt, wenn die Entwicklung gesund verläuft. Dazu gehören beispielsweise Denken, Laufen und Sprechen. Wenn diese Fähigkeiten nicht in einem bestimmten Lebensabschnitt erlernt werden, sprechen Forschende von einer „gestörten Entwicklung„. Das Laufen auf zwei Beinen befähigt den Menschen schneller zu laufen, weiter zu sehen und die Hände freizuhaben. Das Sprechen ermöglicht sozialen Anschluss, Kooperation und Informationsaustausch. Das Denken – mh, lass mich überlegen – ja, das Denken erfüllt auch irgendwelche wichtigen Aufgaben. Die Entwicklungspsychologie unterteilt Entwicklung also in Phasen. Von wann bis wann diese Phasen verlaufen und was in diesen Phasen passiert, variiert von Modell zu Modell.

In ihrem Buch Was ist eigentlich…Entwicklungspsychologie definiert die Psychologin Jutta Kray „Entwicklung“ wie folgt:

„Mit Entwicklung ist eine relativ überdauernde Veränderung im Verhalten und Erleben von Individuen gemeint wie eine Verbesserung intellektueller Fähigkeiten in der Kindheit oder ein besseres Gedächtnis an positiv gefärbte Emotionen im höheren Alter. Kurzfristige Veränderungen der emotionalen Befindlichkeit wie schlechte Laune bei Regenwetter oder Einschränkungen in der körperlichen Beweglichkeit nach einem Unfall werden nicht als Folge von Entwicklungsveränderungen gesehen. Demnach werden Entwicklungsveränderungen immer in Relation zu dem vorherigen Entwicklungszustand eines Individuums betrachtet, also in Zusammenhang, gesetzt.“

J. Kray, Entwicklungspsychologie, Was ist eigentlich …?, 2019

Grundsätzlich versucht die Entwicklungspsychologie Veränderungen innerhalb des Menschen zu beschreiben, zu erklären und im besten Fall vorherzusagen. Dabei untersucht sie verschiedene Individuen und vergleicht die Entwicklungsverläufe, um so Einflussfaktoren und Bedingungen zu identifizieren, die einen positiven oder negativen Effekt auf die Entwicklung haben.

Die typische Entwicklung eines Menschen

Natürlich ist es vereinfachend, degradierend und doof zu sagen, dass es eine idealtypische menschlichen Entwicklung gibt: Manche Kinder lernen eben etwas später Sprechen, was nicht bedeutet, dass sie einen niedrigeren Intelligenzquotienten haben. Allerdings ist es für Psychologende hilfreich, eine „normale“ Durchschnittsentwicklung zu definieren, die die körperliche, kognitive und sozial-emotionale Veränderungen zusammenfasst.

Die Entwicklung eines Menschen beginnt noch bevor es das Licht der Welt erblickt – nämlich in der Gebärmutter. Pipapo 38 Wochen lang wächst die befruchtete Eizelle zu einem Fetus heran, der schon zu diesem Zeitpunkt negativen Umwelteinflüssen ausgesetzt werden kann. Alkohol, Drogen und Stress können noch vor der Geburt den Fetus nachhaltig schädigen und die Entwicklung stören – ganz zu schweigen von der Geburt selbst: Komplikationen, wie Sauerstoffmangel, können auch die körperliche und kognitive Entwicklung beeinträchtigen.

Im zarten Alter von 0 bis 2 Jahren tut sich ziemlich viel bei unserem Mini-Menschen: Die Körpermasse wächst um knapp 75 Prozent der Geburtsgröße an und auch die Entwicklung der Grob- und Feinmotorik macht in diesem Altersabschnitt riesige Fortschritte: Schnell lernt der Mensch im Säuglings- und Kleinkindalter das Laufen und das gezielte Greifen von Gegenständen. Auch die sensorischen Fertigkeiten entwickeln sich in Windeseile. Zunächst verbessern sich die Sehschärfe und Tiefenwahrnehmung und schon bald kann ein Kind Farben und Lautmuster differenzieren. Im zweiten Lebensjahr zeigen sich außerdem schon erste sozial-emotionale Veränderungen, da ein Kind lernt Sympathie für andere Personen zu hegen und sprachliche Äußerungen nutzt, um seine Emotionen Kundzutun.

Die frühe Kindheit sieht die größte körperliche Entwicklung im Bereich der Körperkoordination und des Gleichgewichts. Kinder lernen Rennen, Springen, Werfen und Fangen ohne sich dabei das Genick zu brechen. Auch die Feinmotorik verbessert sich bei den meisten Kindern zwischen 2 und 6 Jahren, sodass sie mit Messer und Gabel essen können. Kognitiv können Kinder in diesem Alter schon Perspektiven anderer Menschen übernehmen und Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung verstehen. Mit zunehmendem Alter verwenden Kinder ein inneres Sprechen, um Emotionen zu regulieren. Eine weitere, super spannende Entwicklung passiert im Bereich der Persönlichkeit. Kinder zwischen 2 und 6 Jahren beginnen nämlich ein Selbstkonzept zu entwickeln, sie lernen Absichten und moralische Aspekte zu berücksichtigen und bilden erste Freundschaften zu Gleichaltrigen.

Sobald Kinder das 6. Lebensjahr erreicht haben, beginnt die sogenannte mittlere Kindheit, die mit dem 11. Geburtstag endet. In dieser Phase gewinnen Kinder an Körperkraft und Geschicklichkeit. Aber auch ihre feinmotorischen Skills verbessern sich und sie können schöner Schreiben und Zeichnen. Es ist kein Zufall, dass Kinder ab dem 6. Lebensjahr als „schulreif“ gelten, denn in diesem Altersabschnitt verbessert sich die selektive Aufmerksamkeit und die Gedächtnisfähigkeit. Auch das Selbstkonzept entwickelt sich in dieser Phase weiter und wird geprägt von sozialen Vergleichen mit der Peergroup, sowie von Erfolge und Misserfolgen in verschiedenen (sozialen) Situationen. Des Weiteren entwickeln Kinder in diesem Alter Problembewältigungsstrategien. Wie wir alle wissen, ist die Grundschulzeit nicht für alle Kinder die einfachste Zeit im Leben, wenn die „coolen Kids“ ihre Cliquen aufbauen und dabei andere Gleichaltrige konsequent ausgrenzen. Kinder werden nach Beliebtheit kategorisiert und daraufhin in die Crew aufgenommen oder verstoßen.

Mit dem Sprießen des ersten Schamhaars beginnt die – für Eltern – ätzendste Zeit im Leben eines Kindes: Die Pubertät. In der Adoleszenz (11 bis 18 Jahre) läutet eine Überdosis Hormone einen Wachstumsschub ein und die Geschlechtsmerkmale verändern sich entsprechend. Pickel, Achselhaare, kleine oder große Brüste/Penaten [das ist doch der Plural von Penis, oder?] können zu positiven oder negativen Körperbildern führen. Kognitiv können solche fast-Erwachsene Informationen schneller und effizienter verarbeiten und irrelevante Informationen besser ausblenden. Das Selbstwertgefühl wird differenzierter und die eigenen Homies werden immer wichtiger, während Familie und Eltern an Bedeutung verlieren.

Mit dem Abklingen der Pubertät tritt der Mensch in das frühe Erwachsenenalter ein. Das Gehirn erreicht zwar sein Maximalgewicht bis zum 19–21 Lebensjahr, allerdings wird es noch einige Jahre dauern, bis es vollständig ausgereift ist. Beispielsweise ist der Teil des Gehirns, der für Risikoabwägung zuständig ist, erst mit 25 voll ausgebildet. Es gibt Neurowissenschaffende, die sagen, dass die Risikoaffinität von junger Menschen daher rührt. Drogen, ungeschützter Sex, besoffen Autofahren und anderes impulsives Verhalten seien keine Charakterschwäche, sondern vielmehr eine natürliche Phase in der Entwicklung – ich persönlich rede mir das auch immer ein. In der Lebensphase von 19 bis zum 40. Lebensjahr beginnt der Mensch bereits körperlich abzubauen und das große Altern beginnt: Das Ticken der biologischen Uhr wird von Jahr zu Jahr lauter und unser Körper degradiert jeden Tag etwas mehr – vom Immunsystem bis zur Fortpflanzungsfähigkeit. Auch kognitiv nimmt die Leistung ab; allerdings hat der Mensch mit zunehmendem Alter auch kulturell vermittelte kognitive Leistungen (z. B. Wissen oder Fähigkeiten) aufgebaut, die das ausgleichen. Ein großer Entwicklungsschritt im frühen Erwachsenenalter ist der Aufbau einer intimen Beziehung mit einem Lebenspartner. Beruf, Familie und Freundschaften gewinnen an Bedeutung, bis der Mensch sich eingestehen muss: „Fuck, ich bin zum Spießer geworden.“

Die Phase zwischen 40 und 65 nennen Forschende das mittlere Erwachsenenalter – und um es auf den Punkt zu bringen: Von hier an geht es Berg ab. Das Hör- und Sehvermögen verschlechtert sich; die Muckis bauen ab, das Fett setzt sich fest. Hormonell ändert sich auch einiges und Frauen kommen in die Wechseljahre. Trotz all dieser körperlichen Änderungen bleibt die Persönlichkeit in dieser Phase weitestgehend stabil und die emotionale Entwicklung hängt stark davon ab, ob der Mensch auf diese Veränderungen im Alter klarkommt.

Ab 65 beginnt die Phase des späten Erwachsenenalters. Wer jetzt noch Hören und Sehen kann, sollte sich glücklich schätzen; allerdings nehmen im späten Erwachsenenalter auch andere sensorische Fähigkeiten ab und viele können nicht mehr so gut Schmecken oder Riechen. Zunehmend wird es schwieriger eine Nacht durchzuschlafen und auch im kognitiven Bereich kommt es zu größer werdenden Lücken. Abhilfe bringt ein aktiver Lebensstil mit viel sportlicher Betätigung, denn das fördert die geistige und körperliche Funktionsfähigkeit.

Verschiedene Modelle der Entwicklung: Freud, Piaget und Erikson

Wie mein Vater immer so schön sagte: „Opinions are like a**holes: Everybody’s got one“ – und das gleiche gilt natürlich auch in der Entwicklungspsychologie. Verschiedene Baba-Psychologende haben über die Jahrzehnte hinweg verschiedene Modelle, Erklärungen und Theorien postuliert, um die Entwicklung des Menschen zu erklären. Grundsätzlich gibt es drei übergeordnete Konzepte in der Entwicklungspsychologie, in die sich die folgenden Modelle einordnen lassen.

  • Entwicklung als Reifung
  • Entwicklung als Folge von Erfahrung
  • Entwicklung als Sozialisation

Alle drei Konzepte haben ihre Validität und Befürwortende: So denken Behavioristen beispielsweise, dass Menschen das Produkt ihrer Erfahrungen und Umwelteinflüsse sind. Viele Theorien bedienen sich auch aus den verschiedenen Konzepten und Mixen sich so ihren perfekten Entwicklungspsychologie-Cocktail zusammen. Drei der wichtigsten Entwicklungspsychologen, die bahnbrechende Erkenntnisse erlangt haben, sind Sigmund Freud, Erik H. Erikson und Jean Piaget. Abgesehen davon, dass die drei Typen reich, weiß und männlich waren, hatten sie nicht viel gemeinsam: Freud war Begründer und Verfechter der Psychoanalyse; Erikson erarbeitete die psychosoziale Entwicklungstheorie; und Jean Piaget betrachtete Entwicklung aus der Perspektive der kognitiven Entwicklungspsychologie.

Entwicklungspsychologische Modelle: Psychoanalyse nach Sigmund Freud

Auch wenn Sigmund Freuds Erkenntnisse aus dem später 19. Jahrhundert heutzutage etwas veraltet und vielerorts belächelt werden, haben sie trotzdem ihren Beitrag zur Entwicklungspsychologie geleistet. Die Grundannahme Freuds lag darin, dass Menschen mehrere Stufen in ihrem Leben bewältigen müssten, zum Beispiel psychosexuelle Entwicklungsstufen. Von dem Tag der Geburt bis hin zum jungen Erwachsenenalter müssten Menschen Konflikte zwischen den biologischen Trieben (Aggression, Sex) und den gesellschaftlich-sozialen Erwartungen lösen. Menschen, die diese Konflikte gut lösen, sind dann in der Lage ihre Persönlichkeit „gesund“ zu entwickeln.

Freuds psychoanalytische Sichtweise auf die Entwicklung ist in seiner allgemeineren Theorie der menschlichen Psyche eingebettet. Hier eine kurze Erinnerung: Sigmund Freud unterscheidet drei Instanzen in einer Person: das „Es“, das „Ich“ und das „Über-Ich“. Das „Es“ ist der Sitz der Triebe (aka Sex und Aggression) und das „Über-Ich“ ist sozusagen der Antagonist und vermittelt Werte, soziale Normen und Moral. Das „Ich“ muss dann zwischen den beiden Streithähnen vermitteln und ist daher der Ort des „Realitätsprinzips“, der die Triebe des „Es“ mit den Restriktionen des „Über-Ichs“ versucht in Einklang zu bringen. Unser ganzes Leben kann an uns Menschen vorbeiziehen, ohne dass wir uns überhaupt einer dieser Instanzen bewusst werden, denn sie laufen in der Tiefe unserer Psyche ab.

Freud geht davon aus, dass wir als Baby nicht viel mehr als ein Bündel „Es“ sind: Wir sind vollkommen Triebgesteuert, wollen Fressen und schreien rum, wenn uns etwas nicht passt. Nach und nach werden wir einem knallhartem Realitycheck unterzogen: Wir bekommen nämlich nicht immer das, wonach wir schreien. Nach Freud beginnt sich dann das „Ich“ zu entwickeln, was zwischen dem „Realitätsprinzip“ und dem „Lustprinzip“ zu vermitteln versucht. Später im Leben des Kindes beginnen die erotischen Wünsche, die sich zunächst auf das gegengeschlechtliche Elternteil richten – ziemlich weird, ich weiß. Diese sexuelle Anziehung an das Elternteil führt das Kind in ein Dilemma: Wenn der kleine Hans seine Mutter knallt, wird sein Papa stinksauer sein und ihn kastrieren. Dieses Dilemma kann nur durch die Entwicklung des „Über-Ichs“ gelöst werden, das dafür zuständig ist, Triebe zu regulieren und unerlaubte Wünsche zu verdrängen. (Fun Fact: Der kleine Hans war ein phobischer Patient von Freud, der panische Angst vor Pferden hatte. Freud erklärte seine Phobie damit, dass der kleine Hans auf seine Mutti stand und auf diese unerlaubte sexuelle Lust nicht klarkam).

Freud nannte diese drei Entwicklungsphasen: Oral, Anal und Phallisch. Dabei war sich Freud sicher, dass alle Menschen – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Sexualität oder Kultur – diese drei Phasen durchlaufen. Allerdings durchlaufen nicht alle Menschen die orale, anale und phallische Phase erfolgreich. Bei solchen Personen entstehen dann oftmals psychische Störungen, wie soziale Phobien, später im Leben.

Psychosoziale Entwicklungstheorie: Die Acht Stufen nach Erikson

Im Gegensatz zu Sigmund Freud erkannte Erik H. Erikson gleich acht Stufen in der Entwicklung des Menschen, die sich nicht auf das Kindesalter begrenzen, sondern bis ins späte Alter ziehen. Innerhalb dieser acht zeitlich abgegrenzter Stufen muss der Mensch grundlegende psychosoziale Krisen lösen. Jede Stufe bietet eine positive oder negative Lösung dieser Krisen und je nachdem wie der Mensch die Krise bewältigt, entwickelt sie/er sich. Haltungen, Fähigkeiten und grundlegende Charakterzüge entstammen der Bewältigung dieser Krisen.

Nach Erikson ist das erste Lebensjahr maßgeblich für die Entwicklung von Vertrauen. Wer als Säugling umsorgt wird und viel Liebe, Geborgenheit und Sicherheit von seinen Hauptversorgern (meist die Eltern) erfährt wird später anderen Menschen vertrauen können; während Kinder, die keine Liebe und Geborgenheit im ersten Lebensjahr erfahren, anderen Menschen eher misstrauen werden. Die zweite Lebensphase beginnt mit dem zweiten Lebensjahr: Hier muss ein Mensch den Konflikt zwischen Autonomiebestreben und Scham/Zweifel ausfechten. Die weiteren Lebensphasen findest du in der folgenden Tabelle:

StadienHauptaufgabe oder Herausforderung in diesem Stadium
Erstes Lebensjahr (0 Jahre)Psychosoziale Krise: Vertrauen vs. Misstrauen
Primäraktivität: Konstante Versorgung
Bedeutende Beziehungen: Hauptversorger
Posivites Ergebnis: Vertrauen und Optimismus
Frühe Kindheit (2–3 Jahre)Psychosoziale Krise: Autonomie vs. Scham und Zweifel
Primäraktivität: Unabhängigkeit von den Eltern
Bedeutende Beziehungen: Eltern
Posivites Ergebnis: Gefühl von Autonomie und Selbstachtung
Kindheit (3–6 Jahre)Psychosoziale Krise: Initiative vs. Schuldgefühle
Primäraktivität: Erkundung der Umwelt
Bedeutende Beziehungen: Ursprungsfamilie
Posivites Ergebnis: Selbstbestimmung, Zielbewusstsein
Schulalter (6–11 Jahre)Psychosoziale Krise: Tätigkeit vs. Minderwertigkeitsgefühle
Primäraktivität: Aneingung von Wissen
Bedeutende Beziehungen: Nachbarn und Schule
Posivites Ergebnis: Gefühl von Kompetenz und Leistungsvermögen
Adoleszens (12–18 Jahre)Psychosoziale Krise: Identität vs. Identitätsverwirrung
Primäraktivität: Kohärente Ziele und Persönlichkeiten ausbilden
Bedeutende Beziehungen: Gleichaltrige, In-Groups und Out-Groups
Posivites Ergebnis: Integriertes Selbstbild
Junges Erwachsenenalter (18–35 Jahre)Psychosoziale Krise: Intimität vs. Isolierung
Primäraktivität: Tiefe und dauerhafte Beziehungen etablieren
Bedeutende Beziehungen: Freunde und Partner
Posivites Ergebnis: Liebes- und Bindungsfähigkeit
Mittleres Erwachsenenalter (35–64 Jahre)Psychosoziale Krise: Schöpferische Tätigkeit vs. Stagnation
Primäraktivität: Produktiv und kreativ für die Gemeinschaft
Bedeutende Beziehungen: Gemeinsamer Haushalt
Posivites Ergebnis: Soziales, familiäres, gesellschaftliches Engagement
Hohes Erwachsenenalter (ab 65 Jahre)Psychosoziale Krise: Integrität vs. Verzweifelung
Primäraktivität: Rückblick auf Leben und Bewertung
Bedeutende Beziehungen: Großfamilie
Posivites Ergebnis: Gefühl der Befriediung; Akzeptanz des Todes
Die acht Stufen der psychosozialen Entwicklungspsychologie nach Erik H. Erikson

Der Mensch muss in jeder der acht Lebensstufen eine psychosoziale Krise überwinden, die jeweils einen positiven und einen negativen Ausgang hat.

Jean Piaget und die Entwicklungspsychologie: Kognitive Entwicklung

Auch Jean Piaget unterteilte die Entwicklung des Menschen in unterschiedliche Phasen. Für ihn entwickelte der Mensch seine kognitiven Fähigkeiten in vier Phasen von der Kindheit bis ins Jugendalter:

  • Das sensomotorische Stadium,
  • das präoperationale Stadium,
  • das Stadium der konkreten Operationen und
  • das Stadium der formalen Operationen.

Nach Piaget beginnt das erste sensomotorische Stadium mit der Geburt und zieht sich bis ins zweite Lebensjahr. Kleinkinder lernen in dieser Entwicklungsphase vor allem sensorische und motorische Fertigkeiten. Da wir Menschen von Haus aus mit Reflexen und rudimentären Wahrnehmungsfähigkeiten ausgestattet sind, beginnen wir schon früh die Welt zu erkunden. Zunächst können wir nur Krabbeln und Sabbern, doch schon bald lernen wir das Laufen und können plötzlich auf viel größere Entdeckungstouren gehen. Eine sehr wichtige kognitive Entwicklung in dieser Zeit ist die sogenannte Objektpermanenz. Kinder (bis ca. 8 Monate alt) raffen nämlich nicht, dass Objekte noch existieren, wenn sie sich nicht in ihrem Blickfeld befinden. Sobald die Mama das Stofftier außer Sichtweite legt, existiert es nicht mehr für das Kind. Nach ungefähr 12 Monaten beginnen Kinder dann zu checken, dass Objekte sich nicht einfach auflösen, wenn Mama sie unter der Bettdecke versteckt: sie haben eine mentale Repräsentation des Objekts.

Die zweite Lebensphase nach Piaget ist die präoperationale Stadium und umfasst Kinder im Alter von zwei bis sieben Jahren – also Kinder im Vorschulalter. In diesem Stadium lernen Kinder Zeit zu verstehen und verbessern bestehende motorische und sensorische Fähigkeiten. Kinder in dieser Lebensphase sind noch stark egozentrisch; dass heißt, sie können keine unterschiedlichen Perspektiven abwägen und ihr Denken beschränkt sich stets nur auf eine Dimension. So haben Kinder im präoperationalen Stadium noch nicht das „Invarianzkonzept“ verinnerlicht: Kinder, denen man 100 ml Orangensaft in ein hohes, schmales Glas und 100 ml Orangensaft in ein tiefes, breites Glas eingießt, werden immer denken, dass im hohen Glas mehr drin ist. Piaget nennt diese Unfähigkeit andere Perspektiven anzunehmenkindlichen Egozentrismus„.

Vom 7. bis zum 11. Lebensjahr befinden sich Kinder im Stadium der konkreten Operationen – hier hört der Spaß also auf und der Ernst des Lebens beginnt. In dieser Phase löst sich der kindliche Egozentrismus und Kinder lernen multidimensional zu Denken (zum Beispiel: Höhe, Tiefe, Breite des Orangensaftglases). Außerdem können Kinder die Perspektiven ihrer Mitmenschen annehmen und aus der eigenen Perspektive herauszutreten. Doch, wie Du bestimmt noch genau weißt, ist ein Kind im Grundschulalter noch ziemlich leicht abzulenken, da sich die meisten Gedanken auf konkret beobachtbare Dinge fokussieren. Abstrakte Operationen, wie Mathe, Physik oder gar Philosophie, fällt den meisten Kindern in diesem Alter sehr schwer.

In der finalen Phase der Entwicklung, im Stadium der formalen Operationen, gelingt es Kindern dann aber auch abstrakte Konstrukte zu verstehen. Auch das hypothetische Schlussfolgern ist eine kognitive Entwicklung, die Kinder und Jugendliche in dieser Phase erlernen. Zunehmend beschäftigen sich Jugendliche mit moralischen, sozialen, philosophischen und politischen Themen und Piaget sagt, dass Menschen in diesem Stadium die höchste Ebene der Logik erlangen (können).

Die Quintessenz der Theorie von Jean Piaget ist also, dass der Mensch mit zunehmender Lebenserfahrung es schafft, die innere Repräsentation der Welt differenziert zu interpretieren. Von den tollpatschigen Greifversuchen eines Babys bis hin zu den niemalsendenden Diskussionen über Political Correctness im Flur der Universität: Die menschliche Entwicklung ist davon geleitet, dass wir lernen die Welt kognitiv zu erfassen und sie zu verstehen. Das lernt der Mensch, indem er Lebenserfahrung sammelt und immer wieder mit neuen Erfahrungen konfrontiert wird, die nicht in sein Schema passen. Daraufhin muss der Mensch seine Gedankenwelt anpassen und rafft dann irgendwann, dass sich sein Kuscheltier nicht in Luft auflöst, wenn Mama es unter der Bettdecke versteckt; sondern es existiert, auch wenn er es nicht sieht.

Nature vs. Nurture: Genetik oder Umwelt? Was beeinflusst die Entwicklung?

Die Entwicklungspsychologische Theorien von Sigmund Freud, Erik H. Erikson und Jean Piaget überschneiden sich in einigen Aspekten: Sie unterteilen die Entwicklung in verschiedene Phasen, sie gehen von einer universellen Entwicklung aus und finden den Ursprung psychischer Krankheiten in der Entwicklung. Worin sich die drei (und viele andere) Theorien unterscheiden, ist beim Einfluss von Genetik und Umwelt auf die Entwicklung. Wie viel ist von der Genetik des Menschen und wie viel wird von Umweltfaktoren bestimmt? Die Debatte von „Nature vs. Nurture“ (Natur vs. Erziehung – klingt auf Englisch viel cooler, wa?) polarisiert das Forschungsfeld der Entwicklungspsychologenden und ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal.

Natürlich kann die Entwicklungspsychologie keine omnipotenten Wahrheiten über das Leben jedes einzelnen Menschen aussagen. Dennoch gibt es einige Erkenntnisse, die uns dabei helfen können auf unser Leben klarzukommen.

mw

1 Kommentar

  1. Matthias

    Sehr guter Text

    Antworten

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