Ja, ja. Vertrauen scheint in der heutigen Zeit wie ein nostalgisches Relikt: Sowohl Aluhut- als auch Nicht-Aluhutträger zweifeln mittlerweile an der Berichterstattung unserer liebevoll genannten „Lügenpresse“. Seit der Finanzkrise in 2008 haben wir alle unser Vertrauen in die Banken und Versicherungen verloren. Volkswagen hat mit dem Dieselgate-Skandal das Vertrauen in die freie Marktwirtschaft erodiert. Die einstigen Silicon-Valley-Muttersöhnchen haben sich längst als manipulierende-Demokratie-destabilisierende-geldgeile-Wixer geoutet. Und dank den unzähligen 0815-Ernährungs-Netflix-Dokus vertrauen wir nicht ein mal mehr dem, was wir essen. Wenn meine Tränendrüsen nicht von den Industrieabgasen so verätzt wären, würde ich glatt weinen.
Während unser Vertrauen in die höheren Instanzen von Tag zu Tag schwindet, wird Vertrauen in unsere Mitmenschen immer wichtiger. Denn Vertrauen ist der Klebstoff in unseren Beziehungen – und damit sind sowohl romantische als auch geschäftliche oder freundschaftliche Beziehungen gemeint. Ohne Vertrauen würden unsere Beziehungen ins Nichts führen.
Was ist Urvertrauen, Vertrauen und Misstrauen?
Vertrauen ist das Salz in der Suppe unseres Soziallebens: Vertrauen wir zu wenig, dann ist unser Leben fad; vertrauen wir zu viel, dann ist unser Leben ungenießbar. Jede zwischenmenschliche Beziehung in unserem Leben beruht auf Vertrauen: Vertraue ich meinem Geschäftspartner, dass er das tut, wofür ich ihn bezahle? Vertraue ich meiner Freundin, dass sie meine Geheimnisse nicht ausplaudert? Vertraue ich meinem Partner, dass er mir nicht fremdgeht?
Vertrauen ist in gewisser Weise eine Gratwanderung: Vertraue ich einem guten Geschäftspartner zu wenig, vergraule ich ihn; vertraue ich einem schlechten Geschäftspartner zu sehr, dann werde ich über den Tisch gezogen. Vertraue ich einer guten Freundin zu wenig, dann wird sie von mir abgefuckt sein; vertraue ich einer schlechten Freundin zu sehr, dann wird sie mir in den Rücken fallen. Vertraue ich einem ehrlichen Partner zu wenig, werde ich ihn mit meinem Kontrollzwang verjagen; vertraue ich einem verlogenen Partner zu sehr, wird er irgendwann meine beste Freundin vögeln. Du verstehst, worauf ich hinaus möchte…
Jetzt stell dir vor, du wirst so von solchem Misstrauen geplagt, dass du niemandem vertraust – du hättest zwei Optionen: Entweder müsstest du alles und jeden ständig kontrollieren; oder aber du würdest dich gar nicht erst auf keine zwischenmenschlichen Beziehungen einlassen. Beide Optionen sind nicht ideal und nagen an der Seele eines Menschen.
Doch Misstrauen ist nicht gleich Misstrauen: Im Englischen kommt es etwas besser heraus, da wird nämlich zwischen „distrust“ und „mistrust“ unterschieden, wobei beide Worte auf Deutsch mit „Misstrauen“ übersetzt werden. Allerdings macht die kleine aber feine linguistische Differenz einen großen semantischen Unterschied, wie einige Psychotherapierende sagen. „Distrust“ meint nämlich das Misstrauen, was wir verspüren, nachdem wir eine schlechte Erfahrung gemacht haben. Beispielsweise, wenn wir einer bestimmten Person aus einem bestimmten Grund misstrauen: „Ich traue Michael nicht, weil er immer Scheiße labert und mich gestern angelogen hat.“ Das Misstrauen gegen Michael besteht aus gutem Grund, da wir schon öfter schlechte Erfahrung mit ihm gemacht haben.
„Mistrust“ hingegen meint ein allgemeineres Misstrauen; ein Misstrauen, was uns allgegenwärtig begleitet und Beziehungen von vorneherein vergiftet: „Ich traue Michael nicht, obwohl ich ihn noch nie zuvor getroffen habe und noch nichts über ihn weiß.“ Misstrauen im Sinne von „Mistrust“ ist vielmehr eine Gefühlslage, was wir in unserer Kindheit entwickeln und dann für den Rest unseres Lebens mit uns herumtragen. Gewissermaßen ist der Gegenspieler von diesem allgemeinem Misstrauen das Ur-Vertrauen: Das Gefühl des „Sich-Verlassen-Dürfens“.
Wann entsteht Misstrauen?
Ein allgegenwärtiges Gefühl von Misstrauen (englisch: „mistrust“) entsteht schon in der frühen Kindheit. Nach dem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung von Joan und Erik Erikson tragen Kleinkinder schon sehr früh den Konflikt zwischen Ur-Vertrauen und Misstrauen aus. Im zarten Alter von 0 bis 12 Monaten sind Kleinkinder voll und ganz auf die Fürsorge ihrer Eltern (oder einer Bezugsperson) angewiesen. Ohne eine verlässliche Bezugsperson würde ein Kind erfrieren, verhungern, verdursten – oder an den eigenen Exkrementen ersticken.
Im Mutterleib wird ein Kind voll und ganz umsorgt und muss sich nicht um die irdischen Banalitäten, wie essen, trinken oder Kaka abwischen, kümmern. Doch von dem Moment, an dem das Baby aus der Vulva herausgedrückt wird, wendet sich das Blatt und das Kind ist voll und ganz auf seine Eltern angewiesen. Dabei geht es aber längst nicht nur um die physischen Bedürfnisse des Babys. Wie Erikson in Childhood and Society schreibt, reicht es nicht aus, dass Eltern dem Kind genug zu essen geben – eine gute Bindung zur Mutter ist ausschlaggebend für die Entwicklung des Ur-Vertrauens.
Kinder entwickeln ein grundlegendes Gefühl von Misstrauen, wenn ihnen Nahrung, körperliche Nähe, Sicherheit oder Geborgenheit verwehrt wird. Personen, die solche Vernachlässigung in ihrer Kindheit erleben, werden im späteren Leben stets von Misstrauen geplagt: Misstrauen gegen andere Menschen, aber auch Misstrauen gegen sich selbst.
Kinder, die in ihrem ersten Lebensjahr viel Liebe und Geborgenheit erfahren haben, können sich stattdessen besser entwickeln: „This forms the basis in the child for a sense of identity which will later combine a sense of being ‚all right‘, of being oneself, and of becoming what other people trust one will become.“ Hiermit sagt Erikson, dass die Ausformung des Ur-Vertrauens die Vorraussetzung für ein erfülltes späteres Leben ist.
Eltern, die ihr Baby umsorgen, sollen sie dies mit großer Hingabe tun: Es reicht nicht Verhaltensweisen des Kindes zu verbieten oder zu erlauben. Vielmehr müssen Eltern ihrem Kind einen Sinn hinter ihrer Erziehung vermitteln – nur so geben sie ihrem Kind das Gefühl, dass das eigene Leben Sinn hat: „Parents must not only have certain ways of guiding by prohibition and permission; they must also be able to represent to the child a deep, an almost somatic conviction that there is a meaning to what they are doing. Ultimately, children become neurotic not from frustrations, but from the lack or loss of societal meaning in these frustrations.“
Was tun gegen Misstrauen, Kontrollzwang, Eifersucht?
In unserer privilegierten, westeuropäischen Welt wird Misstrauen eher später im Leben erlernt. Machen wir uns nichts vor: Es ist Fakt, dass der Großteil der Babys hier nicht im Kriegsgebiet oder in Waisenhäusern aufwachsen. Versteh‘ mich nicht falsch: Natürlich gibt es auch hier haufenweise unfähige oder garstige Eltern. Allerdings werden (abgesehen von Missbrauchsfällen) die meisten Kinder in ihrem ersten Lebensjahr (relativ) gut umsorgt.
Doch wieso ist Misstrauen (und seine Symptome, wie Kontrollzwang und Eifersucht) hierzulande trotzdem so weit verbreitet? Bei den meisten Menschen ist Misstrauen erlernt: Wir vertrauen Person A; Person A enttäuscht uns; wir misstrauen Person A beim nächsten Mal. Doch was tun, wenn unser Misstrauen nicht mehr angebracht ist? Können wir jemals wieder vertrauen?
Vertrauen wieder aufzubauen ist mühsam, aber machbar – und meistens lohnt es sich. Beziehungen, die auf reziprokes Vertrauen basieren, sind meistens die erfolgreichsten Beziehungen. Ob geschäftlich, freundschaftlich oder romantisch. Die Geheimzutat, um Vertrauen wieder aufzubauen, ist Vergebung. In jeder Beziehung wird es früher oder später dazu kommen, dass sich das Gegenüber anders verhält, als wir es uns gewünscht hätten. Meistens sind es bloße Missverständnisse; manchmal sind es Sticheleien und seltener ist es ein aktiver Vertrauensbruch. Das lässt uns nur mit zwei Optionen: Entweder wir vergeben unser Gegenüber oder wir misstrauen unserem Gegenüber. Wenn wir einen aktiven Vertrauensbruch ausschließen können, lohnt es sich meistens den eigenen Groll beiseitezulegen und sein Gegenüber zu vergeben. (mw)
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