Minderwertigkeitsgefühle: Deshalb feiern wir Tiefkühlpizza + Binge-Watching mehr als Trainieren

Minderwertigkeitsgefühle: Deshalb feiern wir Tiefkühlpizza + Binge-Watching mehr als Trainieren

Kennst du das Gefühl, wenn dich irgendein Kumpel (nennen wir ihn Jochen) ständig zum Sportmachen motivieren will und dich immer wieder zum Bouldern einlädt? Und kennst du das beengende Gefühl, wenn du 28 Mal absagst, aber dir beim 29. Mal keine Ausrede mehr einfällt? Noch bevor du realisiert, was um dich geschieht, stehst du in der kalten Boulderhalle und leihst dir käsige Kletterschuhe vom hippen Klettergeschirr-Typen mit Rastas an der Theke aus. Dich ergreift die Panik, als du siehst, wie Jochen die Boulderwände hochjumpt – als wäre er eine gottverdammte Bergziege. In den letzten Monaten bestand dein „Sport“ aus einem Staffellauf von der Couch zum Backofen und zurück, um dir eine Tiefkühlpizza nach der anderen beim Kiffen-und-Netflix-Binging reinzufahren.

Wenn wir uns in einer solchen Situation befinden, haben wir zwei Möglichkeiten:

1.) Entweder wir fangen klein an und stellen uns mit den anderen Tiefkühlpizza-Junkies an die Kinderwand, tasten uns langsam heran, fallen oft hin und haben am nächsten Tag den Muskelkater unseres Lebens. Doch wir belassen es nicht dabei und setzen uns das Ziel fitter zu werden und bewegen deshalb unseren fetten Arsch öfter zum Sport. Wir werden stärker, besser und schneller und das nächste Mal, wenn uns Jochen fragt, ob wir mit zum Bouldern kommen, machen wir ihn fertig und erniedrigen ihn vor allen attraktiven Kletterhipstern.

2.) Wir können aber natürlich auch die Niederlage hinnehmen und uns in der Umkleidekabine verstecken, bis die anderen fertig sind und dann so tun als wären wir die ganze Zeit auf der anderen Seite der Boulderhalle geklettert. Zuhause fahren wir uns erst mal eine Ofenfrische Peperoni-3 Käse rein, rollen einen Joint und schauen zum fünften Mal die dritte Staffel Modern Family, da Cam und Mitchell uns immer so zum Lachen bringen.

Dreimal darfst du jetzt raten, welche Variante besser ist für die (seelische) Gesundheit. Entscheiden wir uns für Variante 2, stecken wir das allerdings nicht einfach so weg: Mit jedem triefenden Stück Pizza verlieren wir etwas mehr Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten. Wir verlieren Vertrauen, dass wir imstande sind, Herausforderungen anzunehmen und persönliche Ziele zu verfolgen und schließlich zu erreichen. Wir verlieren ein Stück Selbstvertrauen. Und während unser Selbstvertrauen so dahinschmelzt, wie der Analogkäse im 220-Grad-vorgeheizten Backofen, creept ein neues Gefühl in unsere Psyche: Das Gefühl der Minderwertigkeit.

Was sind Minderwertigkeitskomplexe?

Zunächst müssen ein paar Begriffe abgegrenzt werden: Minderwertigkeit, Minderwertigkeitsgefühl und Minderwertigkeitskomplex. Mit Minderwertigkeit ist die objektive (also die messbare) Minderwertigkeit gemeint: „Ich bin schwächer als Jochen, denn er kann 10 Liegestütze mehr drücken als ich.“ Sobald ich mir dieser Minderwertigkeit bewusst werde und diese kontempliere, spricht man vom Minderwertigkeitsgefühl: „Bevor Jochen und ich Bouldern gegangen sind, wusste ich nicht, dass er sportlicher ist als ich. Nach unserem Ausflug in die Boulderhalle habe ich das Gefühl, ich bin schwächer als Jochen.“ Mit Minderwertigkeitskomplexen wiederum sind übersteigerte Minderwertigkeitsgefühle gemeint, die in (chronische) Komplexe münden können: „Jochen ist in allem immer besser als ich, weil ich ein dummer, ekliger Fetti bin. Ich werde einsam und alleine sterben.“

Das Gefühl von Minderwertigkeit hängt stark mit dem Selbstwertgefühl zusammen. William James, der als Begründer der Psychologie gilt, definierte einst das Selbstwertgefühl als das Verhältnis zwischen erreichten Zielen und unerreichten Zielen. Personen könnten demnach ihr Selbstwertgefühl steigern, indem sie ihre Ziele herunterschrauben – oder aber mehr Ziele erreichen. Wer (a) zu hohe Anforderungen an sich selbst stellt oder (b) zu geringe Anstrengungen unternimmt, wird ein schwaches Selbstwertgefühl haben.

Und da wir Menschen soziale Wesen sind und uns ständig mit unseren Mitmenschen vergleichen, führt ein geschwächtes Selbstwertgefühl dazu, dass wir uns unterlegen fühlen. Jeder einzelne von uns erlebt dieses Gefühl der Unterlegenheit (sprich: Minderwertigkeit) im Laufe des Lebens. Personen, die sagen, sie kennen das Gefühl von Minderwertigkeit nicht, sind LügnerInnen oder PsychopathInnen. Alle Menschen verspüren in ihrem Leben das Gefühl der Minderwertigkeit, denn es gibt immer Menschen, die eine Tätigkeit besser beherrschen als wir selbst. Bestes Beispiel: die Kindheit.

Kinder sind zwangsläufig kleiner, schwächer und ungebildeter als Erwachsene – sie sind also ganz klar unterlegen und könnten ohne Erwachsene nicht überleben. Ab einem gewissen Alter werden sich Kinder ihrer Unterlegenheit bewusst und finden das Gefühl irgendwie kacke. Ab diesem Moment in unserem Leben versuchen wir immer wieder unsere eigene Minderwertigkeit auszubalancieren, indem wir unsere Fähigkeiten verbessern. Wir setzen uns Ziele, fordern uns selbst heraus und wenn wir eine Herausforderung meistern, wächst unser Selbstvertrauen. Und das fühlt sich geil an. Leider hält dieses Gefühl meist nicht allzu lange, da uns schon bald der nächste Penner an unsere Minderwertigkeit in einem anderen Bereich erinnert.

Woher kommen Minderwertigkeitsgefühle und Minderwertigkeitskomplexe?

Star-Psychologe Alfred Adler (†1937) beschäftigte sich ausgiebig mit dem Thema „Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben“ und kam zu dem Entschluss, dass Minderwertigkeitsgefühle die treibende Kraft des Menschen sind. Eine (seelisch) gesunde Person wird alle Bestrebungen unternehmen, um Minderwertigkeitsgefühle zu begraben, damit sie Sicherheit und Gleichwertigkeit erreicht.

Minderwertigkeitskomplexe haben ihren Ursprung meist in der Kindheit. Wie Alfred Adler in seinem bahnbrechenden Buch Menschenkenntnis erklärt, verspüren Kinder mit Minderwertigkeitskomplexen eine „Drosselung des Gemeinschaftsgefühls“ und beschäftigen sich eher mit sich selbst und mit dem „Eindruck, den sie auf die Umwelt machen“, statt mit den Interessen ihrer Mitmenschen.

Meistens sind es die eigenen Eltern, die den Grundstein legen für chronische Minderwertigkeitsgefühle bei ihren Kindern. Einerseits gibt es die Eltern, die von ihren Kindern immer viel zu viel verlangen und so das Gefühl des Nicht-Gut-Genug-Seins verstärken. Andere Eltern pushen ihre Kinder aber nicht genug und lenken immer wieder ihre Aufmerksamkeit auf ihre geringe Bedeutung. Dann gibt es natürlich auch die Art von Eltern, die ihre Kinder überbehüten und so tun als wäre ihr Nachwuchs aus Zucker. Natürlich gibt es dann auch Eltern, die ihr Kind wie einen Alleinunterhalter behandeln und es ständig auslachen. Wieder andere Eltern lassen sich keine Chance entgehen, es ihrem Sprössling zu drücken, dass es ein Unfall war und sie ohne Kinder viel glücklicher gewesen wären. Ja, ja. Manche Eltern sind schon Wixer und manche Eltern checken einfach’s nicht. Ist gar nicht mal so einfach, ein unverkorkstes Kind zu erziehen. Wenn es nach Adler geht, können die oben genannten Beispiele, zu Minderwertigkeitskomplexen bei Kindern führen.

„Den Stachel, der ihnen in frühen Kindheitstagen eingetrieben wurde, bringen sie nicht mehr los, die Kälte, der sie begegnet sind, schreckt sie von weiteren Annäherungsversuchen an die Umgebung ab, was damit endet, dass sie sich einer lieblosen Welt gegenüber glauben, an die eine Anknüpfung nicht möglich ist.“ 

Menschenkenntnis, Alfred Adler

Was machen Minderwertigkeitsgefühle mit uns? Variante 1: Selbstschutz in der Komfortzone

Viele Menschen mit Minderwertigkeitsgefühlen haben ein unrealistisches Selbstbild, da sie sich zu hohe Ziele setzen und sich gar nicht erst ihren Herausforderungen stellen. Wenn sie sich nämlich ihren Herausforderungen gar nicht erst stellen, dann können sie auch niemals verkacken. Solche Menschen versuchen oftmals ihre Mitmenschen (aber auch sich selbst) davon zu überzeugen, dass sie irgendwie daran gehindert werden, sich ihren Herausforderungen zu stellen.

Dies geht so weit, dass manche Menschen sogar psychosomatische Beschwerden entwickeln, wie Kopfschmerzen, chronische Müdigkeit oder sogar Angststörungen. Diese Beschwerden legitimieren dann das Prokrastinieren, das Zuhausebleiben, die Tiefkühlpizza und Netflix-Binge-Watching – aber im Grunde sind es alles nur Ausreden. Doch irgendwann bröckelt diese Fassade der Prokrastination und du (und vielleicht auch deine Kumpels) merkst, dass du dich raffen musst, wenn dein Leben aus mehr als Tiefkühlpizza, Cannabis und Netflix bestehen soll.

Sobald wir an diesem Punkt gelangen und es endlich checken, dass wir uns vor unserer eigenen seelischen Entwicklung verstecken. Dann haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder wir raffen uns, springen von der Couch auf und stellen uns den Herausforderungen des Lebens. Oder aber wir rollen noch einen Joint und schauen zum dritten Mal die vierte Staffel Modern Family.

Wer sich nie den persönlichen Herausforderungen stellt, kann niemals die persönlichen Ziele erreichen und dessen Selbstwertgefühl wird darunter leiden. Diese chronische Selbstsabotage mündet früher oder später in Minderwertigkeitskomplexen. Sobald dieser Punkt erreicht wird, fühlen sich Menschen nicht nur in manchen Aspekten ihrer Person minderwertig (z.B.: „Ich bin nicht so sportlich wie Jochen, weil ich nicht genug trainiere.“), sondern beziehen Minderwertigkeit auf sich im Gesamten (z.B.: „Ich bin ein fettes, ekliges Stück Scheiße und ich werde einsam und alleine sterben.“).

Um das zu vermeiden, ist es wichtig sich den eigenen Lebenszielen bewusst zu werden. Ist es mir überhaupt wichtig, dass ich im Bouldern besser bin als Jochen? Oder kann ich damit leben, dass ich weniger gut im Sport bin, aber dafür besser Cunnilingus beherrsche? „Eigene Grenzen erkennen, aber stets vorhandene Talente ausbauen“, wäre jetzt ein guter Slogan, wenn KLARKOMMEN ein ekelhafter Life-Coach wäre. Es ist wichtig ein realistisches – wenn auch ambitioniertes – Selbstbild zu haben und sich nicht zu hohe Ziele steckt, die unerreichbar sind. Wenn eine Person zu hohe Erwartungen an sich selbst hat, erscheinen selbst die kleinsten Herausforderungen unüberwindbar. Dann ist die Verlockung natürlich groß, sich seinen Herausforderungen gar nicht erst zu stellen und sich für immer in der Komfortzone zu verstecken.

Was machen Minderwertigkeitsgefühle mit uns? Variante 2: Arschige Überkompensation

Im Gegensatz zu den Menschen, die sich in ihrer Komfortzone verstecken, gibt es ein anderes „archetypisches“ Verhaltensmuster für Personen mit Minderwertigkeitsgefühlen. Im Grunde stellen sie das komplette Gegenteil dar zu denjenigen, die sich immer vor ihren Herausforderungen verstecken: Sie sind „süchtig“ nach Herausforderungen, für sie gibt es einfach nicht genug Herausforderungen. Sobald eine Aufgabe gemeistert ist, widmen sie sich der nächsten Herausforderung und sie geben sich nie mit dem zufrieden, was sie schon erreicht haben.

Alfred Adler nannte dieses Verhalten „Überkompensation“ und erklärt, dass Menschen mit übermäßig starken Minderwertigkeitsgefühlen zu solchem Verhalten neigen. Beispielhaft ist ein sehr dominantes und ekelhaftes Verhalten: „Das Streben nach Macht und Überlegenheit wird überspitzt und ins Krankhafte gesteigert“, so Adler.

Vielleicht kennst du solche Menschen. Menschen, die ohne Rücksicht auf (soziale) Verluste versuchen ihre Position in der Hierarchie zu saven. Ihre Dominanzbestrebungen sind meistens auffällig, nervig und für die meisten Mitmenschen awkward. Im Volksmund nennt man diese Menschen „Arschlöcher“. Ehrgeiz, Eitelkeit, Hochmut und ein „Streben nach Überwältigung des Andern um jeden Preis“ zeichnen solche Überkompensatoren aus. Adler nennt diesen Typ „machtlüstern“ und stellt sie dem „Gemeinschaftsmenschen“ gegenüber. Doch er sagt auch, dass wir nie nie nie vergessen dürfen, dass solche Menschen keine Eigenverantwortung für ihr Arschloch-Sein tragen, sondern sie Opfer einer „erschwerten Entwicklung im Seelenleben“ sind.

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